Der Wandel der Eliten in der Schweiz

N°1, Juli 2015
Felix Bühlmann, Marion Beetschen, Thomas David & Stéphanie Ginalski (Universität Lausanne),

June 4, 2015
How to cite this article:

F. Bühlmann, M. Beetschen, T. David, S. Ginalski & A. Mach (2015). Eliten in der Schweiz. Social Change in Switzerland, N° 1. doi:10.22019/SC-2015-00002

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Zusammenfassung

Die enge Verflechtung der Eliten in der Schweiz wurde lange Zeit als effizientes und konsensorientiertes Model der Gesellschaftskoordination gelobt. Seit einigen Jahren jedoch beginnt dieses Model zu erodieren und selbst Kenner der Verhältnisse diagnostizieren eine neue Unberechenbarkeit der politischen Entscheidungsprozesse. In diesem Artikel vertreten wir, basierend auf einer umfassenden historischen Datenbank zu den wirtschaftlichen, politischen und administrativen Eliten Helvetiens die These, dass die gegenwärtigen Veränderungen in der Finanzialisierung der Wirtschaft wurzeln. Die Internationalisierung der wirtschaftlichen Führungskräfte und der Abschied von kreditbasierten Finanzierungsformen der Industrie führten zu einer Auflösung der Elitekoordination, wie sie für die Schweiz des 20. Jahrhunderts so typisch waren. Gerade weil die politischen und ökonomischen Eliten heute unversöhnlich auseinanderdriften stellt sich die Frage, wie sich die neuen Eliten in Zukunft koordinieren und abstimmen werden.


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Einleitung : Die neue Unberechenbarkeit der Eliten?

Die Entwicklung des schweizerischen Bundesstaates gründe auf der geglückten Zusammenarbeit der Eliten verschiedener Kulturen und gesellschaftlicher Sektoren. So interpretieren dem Land wohlgesinnte Beobachter die Erfolgsgeschichte Helvetiens im 20. Jahrhundert (Katzenstein 1985). In der Tat: dem allgegenwärtigen Milizprinzip und der fehlenden Professionalisierung der politischen Eliten verdanken wir eine im Laufe des 20. Jahrhunderts zunehmend enge Verflechtung der ökonomischen, administrativen und politischen Felder. Im Verbund mit der territorialen und gefühlten Kleinheit der Schweiz erwuchs daraus eine Elite, in der man sich dank unzähliger Netzwerke gegenseitig kennt und wichtige Entscheide konsensbasiert zwischen Verbänden, Parteien und der Verwaltung fällt (Kriesi, 1980).

Dieses günstige Urteil über die schweizerischen Eliten – ihren engen Zusammenhalt, die kurzen Entscheidungswege und ihren regen Informationsaustausch – konnte sich lange halten. Doch in den letzten Jahren verschafft sich Argwohn gegenüber der starken Machtkonzentration Gehör. Begriffe wie „Filz“ oder „Classe politique“ werden nicht mehr nur, wie in der Vergangenheit, von kritischen Medien oder Intellektuellen verwendet. Sie gehören mittlerweile zum Vokabular von Teilen der Elite selber (Wittmann 2002; Parma, 2007) und ihre Omnipräsenz kann als Hinweis dafür gelten, dass die Dinge in Fluss geraten sind. Diese Indizien für einen Umbruch aufnehmend, diagnostizieren die drei Journalisten Matthias Daum, Ralph Pöhner und Peer Teuwsen in ihrem Buch „Wer regiert die Schweiz?“ (2014) eine neue Unberechenbarkeit der schweizerischen Elite. Sie zeigen auf, wie schwierig es mittlerweile selbst für Kenner der Verhältnisse ist, eine eindeutige, die Schweiz regierende Fraktion zu identifizieren. Allerdings ist ihr Buch nicht nur sehr anekdotisch angelegt, sondern auch falsch aufgezäumt, um den jüngsten Veränderungen der schweizerischen Eliten analytisch Herr zu werden. Die Autoren konzentrieren sich in erster Linie auf die politischen Eliten und Machtprozesse. Die gegenwärtigen Veränderungen hingegen wurzeln in der Finanzialisierung der Wirtschaft. Sie entstanden als Folge der Internationalisierung der wirtschaftlichen Führungskräfte und der sich daraus ergebenden Auflösung der Elitekoordination, wie sie für die Schweiz des 20. Jahrhunderts so typisch waren.

In diesem Artikel zeigen wir wie die Schweizer Eliten, sich eine höchst selektive sozio-ökonomische Zusammensetzung zu Nutze machend, sich in der Zwischenkriegszeit zu einem soliden Gefüge verschweisst haben. Wir diskutieren dann wie und warum sich diese in den letzten dreissig Jahren vom wirtschaftlichen Sektor ausgehend lösten, in eine unübersichtliche Übergangsphase mündeten und wo sich am ehesten die Keime für eine neue Machtelite entdecken lassen.

Definitionen, Daten und Methoden

Als Eliten definieren wir soziale Gruppen, die aufgrund ihrer Positionen oder Ressourcen in der Lage sind die Entwicklung einer Gesellschaft zu beeinflussen oder für sie richtungsweisende Entscheidungen zu treffen (Hartmann, 2007: 17). Macht- und konflikttheoretische Forscher gehen von einer einzigen, sphärenübergreifenden Elite aus (Mills, 1956): Diese entstamme den herrschenden Klassen, pflege eine gemeinsame Ideologie und verfüge über tief- und weitreichenden Einfluss auf die Gesellschaft. Funktionalistische Theoretiker behaupten hingegen, in den westlichen Gesellschaften hätten sich mehrere, miteinander konkurrierende Eliten herausgebildet (Keller, 1963). Diese würden aufgrund ihrer Leistungen rekrutiert, tauschten sich kaum aus, seien schwerlich über einen gemeinsamen Lebensstil zu identifizieren. Zudem sei ihr Machtradius eingeschränkt. Die jüngste Eliteforschung geht davon aus, dass sich in keinem europäischen Land des ausgehenden 20. Jahrhunderts eine der Varianten in Reinform durchgesetzt hat (Hartmann, 2007). Wie sich die beiden Modelle in einer Gesellschaft konkret mischen, bleibt eine empirische Frage.

Um sie zu beantworten und die Beziehungen zwischen den Eliten in der Schweiz empirisch zu fassen, stützen wir uns auf eine Datenbank von über 20’000 Einträgen zu Mitgliedern der politischen, ökonomischen und administrativen Elite[1]. Diese Personen wurden aufgrund ihrer institutionellen Positionen in den Jahren 1910, 1937, 1957, 1980, 2000 und 2010 ausgewählt (siehe den Kasten „Die Datenbank zur Erforschung der Schweizer Eliten“ am Ende des Artikels).

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Der soziale Sockel der Schweizer Eliten

In populären Thesen wird behauptet, der Zugang zu den Schweizer Eliten sei analog zur direkten Demokratie besonders offen, demokratisch und leistungsbasiert. Unsere Daten hingegen lassen auf ruppige Klassen- und Geschlechterhierarchien schliessen (Levy et al., 1997). Die Portale zu den Schweizer Eliten sind höchst selektiv. Sie setzen ein männliches Geschlecht, ein wohlhabendes Elternhaus, ein akademisches Studium und die Schweizer Nationalität voraus. Diese Kriterien bilden seit Beginn des 20. Jahrhunderts das Fundament für den Zusammenhalt der Schweizer Eliten.

Schweizer Elitenetzwerke bauen auf männliche Formen der Geselligkeit. Bis in die 1980er Jahren blieb Frauen der Zugang zu Elitepositionen rigoros verstellt. Erst seit 30 Jahren können wir einen bescheidenen Anstieg des Frauenanteils beobachten.

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Am stärksten manifestiert sich dieser in der plebiszitär funktionierenden Politik. In den Verwaltungs- und Wirtschaftseliten wo eine kleine, homogene Gruppe von Männern die Auswahl ohne Transparenz und demokratische Kontrolle trifft, ist die Frauenquote mit 18%, bzw. 10% immer noch sehr bescheiden. Wir können deshalb davon ausgehen, dass auf Männlichkeit basierende Bindekräfte lange Zeit sehr gut funktionierten und lediglich in den letzten Jahren aufgeweicht wurden.

Aufgrund der (gerade im europäischen Vergleich) lückenhaften Datensituation, wissen wir zur sozialen Herkunft der Schweizer Eliten am wenigsten. In einer der wenigen aktuellen Studien, beruhend auf Daten aus den frühen 1990er Jahren, zeigen Rothböck et al. (1999), dass die Väter der Mitglieder von politischen und wirtschaftlichen Eliten einen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung deutlich höheren Berufsstatus haben und länger in Ausbildung waren. Insbesondere die akademische Ausbildung fungiert in der Schweiz als neuralgische Hürde für die Aufnahme in Elitepositionen. Einem historischen Trend in der Gesamtbevölkerung folgend, besitzen zwar immer mehr Elitemitglieder eine universitäre Ausbildung. Die Anteile von Akademikern variieren allerdings je nach Elitensphäre (Tabelle 3).

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Insbesondere in den Spitzenpositionen der Verwaltung ist die Ratio der Akademiker traditionell hoch. Aber auch in der Wirtschaftselite stieg deren Anteil jüngst auf mehr als 85%, während der Anteil von Parlamentariern ohne akademische Ausbildung bis heute relativ hoch bleibt. Dies nicht zuletzt als Folge von Verschiebungen innerhalb der Parteien und des Aufstiegs der SVP: 1980 sind 45.2 % der sozialdemokratischen Bundesparlamentarier ohne universitäre Ausbildung, im Jahr 2000 nur noch 17.2%. Umgekehrt verhält es sich mit der SVP. Während 1980 lediglich 39.3% ohne akademischen Titel sind, so steigt dieser Anteil 2000 auf 64.7% (Pilotti et al., 2010).

Ein weiteres soziales Einschlussprinzip wurde ab den 1920er Jahren die Nationalität. Während die schweizerischen Wirtschaftseliten (und beispielsweise auch die akademischen Eliten) zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einer grossen Deutschen Fraktion geprägt waren, so setzte als Teil der Überfremdungspolitik nach dem ersten Weltkrieg ein Nationalisierungsprozess der Eliten ein, der zugleich ihr soziales Fundament für die kommenden Jahre komplettieren sollte. Auf diesem relativ homogenen Sockel bauten die schweizerischen Eliten in der Zwischenkriegszeit ein System von Koordinationsmechanismen, welches als sogenannter „Filz“ Berühmtheit erlangen wird (Wittmann, 2002).

Die Verflechtungen der Schweizer Eliten

Um wichtige Entscheidungen durchzusetzen bauen Eliten nicht nur auf gemeinsame Herkunft und Ausbildung. Sie tauschen sich auch kontinuierlich über ihre Konzepte und Strategien aus (Mills, 1956; Hartmann, 2007). Sich die sozio-demographischen Gemeinsamkeiten zu Nutze machend, konstruierten die Schweizer Eliten in der Zwischenkriegszeit deshalb ein ausgeklügeltes Koordinationssystem: sie brachten ihren Denkstil und ihr konzeptuelles Rüstzeug über ein gemeinsames Jura-Studium in Einklang; sie schufen und nutzten institutionelle Begegnungsräume für den regelmässigen persönlichen Austausch und brachten systematisch Persönlichkeiten hervor, die in zwei oder mehr Elitesphären gleichzeitig präsent waren.

Nicht wie vielfach vermutet die Universität St. Gallen, sondern die führenden rechtswissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten Zürich und Bern bildeten die Schweizer Eliten im 20. Jahrhundert aus. Hier studierten nicht nur Spitzenbeamte der Bundesverwaltung. Auch künftige Bankdirektoren und viele Parlamentarierinnen durchliefen diese einheitliche Kaderschulung. 1957 beispielsweise hatten 22.9% der Wirtschaftsführer, 30.2% der Parlamentarier und gar 36% der Spitzenbeamten einen rechtswissenschaftlichen Abschluss. Auch wenn ihnen ein dem rechtswissenschaftlichen Studium vergleichbarer Status verwehrt blieb, so funktionierten auch die technischen Ausbildungsgänge an der ETH Zürich als Eliteschmiede. Insbesondere die Manager der Maschinenindustrie, aber auch viele administrative und politische Verantwortungsträger studierten an der ETH.

Institutionalisierte Begegnungsräume, in denen man ungezwungen Ideen austauschen und diskutieren oder sich über gemeinsame Aufgaben kennenlernen kann, sind ein zweiter wichtiger Aspekt der Elitekoordination. „Für die Männer meiner Generation war der Generalstab wie ein Managementkurs“ meinte beispielsweise Philippe de Weck, ein ehemaliger Generaldirektor der UBS[5]. Er verweist damit auch auf die Schaffung eines einheitlichen Denk- und Führungsstils der Eliten über eine gemeinsame Prägung in der Armee.

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Seit Mitte der 1930er Jahre ist der Anteil der Offiziere unter den Elitemitgliedern konstant hoch (Jann, 2003). Mit über 50% ist er bei den Verwaltungseliten am höchsten; aber auch die Wirtschaftseliten mit durchschnittlich 45% Offizieren oder die politischen Eliten mit Werten zwischen 35 und 42% sind überproportional gut vertreten. Zum Vergleich: lediglich 2% aller Schweizer Männer haben 1980 den Rang eines Offiziers.

Drittens ist das auf zivilgesellschaftliches Engagement ausgelegte und politisch nur schwach professionalisierte System der Schweiz geprägt von Personen, die Positionen in mehreren gesellschaftlichen Feldern besetzen. 1957, zur Blütezeit des traditionellen Elitedispositives, sassen beispielsweise 43% (105 von 242) der Parlamentarier in mindestens einer, viele auch in mehreren ausserparlamentarischen Kommissionen. 19.5% (47 von 242) hielten ein Mandat im Verwaltungsrat eines der 110 wichtigsten Unternehmen; und 20 von 242 (also 8.5%) waren gleichzeitig im Vorstand eines der sieben Spitzenverbände. Umgekehrt besetzten 24 der 215 (11%) Top-Manager ein politisches Amt in der Bundesversammlung oder in einer kantonalen Exekutive; 27% derselben Topmanager waren in einem Vorstand eines wirtschaftlichen Interessenverbandes und gar 95 von 215, also 44% der Wirtschaftsführer, sassen in einer ausserparlamentarischen Kommission und nahmen also prominent an jener – zugleich entscheidenden und der demokratischen Kontrolle entzogenen – Phase des parlamentarischen Prozesses teil.

Ähnlich wichtig wie die Koordination zwischen Politik, Wirtschaft und Verwaltung war die Abstimmung innerhalb der Wirtschaftseliten. Die um die Jahrhundertwende gegründeten Wirtschaftsverbände wurden in der Zwischenkriegszeit enger in die Wirtschaftspolitik eingebunden (Eichenberger & Mach, 2011). Die Wirtschaftsführer, nun oft Vorstandsmitglieder dieser Verbände, standen fortan in engem Austausch mit der Bundesverwaltung und wurden im Rahmen des Vernehmlassungsverfahrens zu allen wichtigen wirtschaftspolitischen Fragen konsultiert. Nicht zuletzt nahmen sie als zentrale Akteure an der schweizerischen Referendums- und Initiativdemokratie teil.

Zusätzlich entstanden durch die gegenseitige Beteiligung in Verwaltungsräten auch neue Netzwerke zwischen den Firmen. In diesen Netzwerken tauschten die Unternehmen Informationen aus, erarbeiteten gemeinsame Strategien und trugen Konflikte abseits staatlicher Einmischung aus. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich dieses Netzwerk der Schweizer Unternehmen stark verdichtet (Ginalski et al., 2015).

Graphik1: Vernetzung der Verwaltungsräte der 110 wichtigsten Schweizer Unternehmen 1957

Graphik 1

Legende: die grauen Linien entsprechen gemeinsamen Verwaltungsräten; je dicker die Linien, desto mehr Verwaltungsräte wirken in zwei Unternehmen mit. Dunkelgraue Punkte: Banken; weisse Punkte: restliche Unternehmen; die Grösse der Punkte entspricht ihrer Zentralität (Anzahl Verbindungen) im Netzwerk.

Die Anzahl durch Austausch von Verwaltungsräten verknüpfter Firmen hielt sich bis in die 1980er Jahre auf hohem Niveau. 20 – 25% der Verwaltungsräte der 110 wichtigsten Unternehmen nahmen zwischen 1937 und 1980 Einsitz in mindestens zwei Unternehmen, zwischen 7 – 10% wirkten in drei oder mehr Verwaltungsräten mit. Prominente Bankiers wie Fritz Richner oder Robert Holzach hielten im Jahr 1957, respektive 1980 gar bis zu 10 Verwaltungsratsmandate gleichzeitig.

Die wirtschaftlich bedingte Ausdünnung der Elitenetzwerke

Ende der 1980er Jahre gab es erste Risse im Gefüge der schweizerischen Eliten, ausgehend vom wirtschaftlichen Feld. Neue Management-Prinzipien, die Finanzialisierung der Weltwirtschaft und die Europäisierung veränderten die Zusammensetzung der Schweizer Wirtschaftseliten grundlegend und führten zur Lockerung der Verbindungen zwischen den wirtschaftlichen, politischen und administrativen Eliten.

Befeuert durch den Ansatz des Shareholder Value Managements und die Opportunitäten eines liberalisierten Finanzmarktes, begannen die Unternehmen ihre Funktionsweise radikal zu verändern. Weil die Industrieunternehmen zunehmend von kreditbasierter Finanzierung abrückten und sich fortan verstärkt über die Finanzmärkte finanzierten, benötigten die Banken kein ausgeklügeltes Monitoring System mehr. Als Folge nahmen die Unternehmensverknüpfungen mittels Austausch von Verwaltungsräten seit den 1990er Jahren stark ab. 2010 haben sich kaum noch Firmenchefs gegenseitig in ihren Verwaltungsräten getroffen. Das Netzwerk hat sich aufgelöst. Fast ein Viertel der 110 wichtigsten Schweizer Unternehmen hat 2010 keinerlei Verwaltungsratsverbindungen zu anderen Unternehmen; 1980 waren lediglich 6% der Unternehmen in dieser Art isoliert (David et al., 2015; Ginalski et al., 2015).

Graphik 2: Vernetzung der Verwaltungsräte der 110 wichtigsten Schweizer Unternehmen 2010

 Graphik 2

 Legende: die grauen Linien entsprechen gemeinsamen Verwaltungsräten; je dicker die Linien, desto mehr Verwaltungsräte wirken in zwei Unternehmen mit. Dunkelgraue Punkte: Banken; weisse Punkte: restliche Unternehmen; die Grösse der Punkte entspricht ihrer Zentralität (Anzahl Verbindungen) im Netzwerk.

Zweitens hat sich die schweizerische Wirtschaftswelt, angetrieben durch die Europäische Integration, zwischen 1980 und 2010 drastisch internationalisiert.

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Bis ins Jahr 2000 haben sich die Manager der schweizerischen Unternehmen europäisiert; erst nach der Jahrtausendwende auch globalisiert. Im Jahr 2010 sind nur noch knapp zwei Drittel der Top-Manager der 110 wichtigsten helvetischen Unternehmen Schweizer[7]. Die dominierenden multinationalen Unternehmen – Novartis, ABB, Nestlé, Credit Suisse oder UBS – werden ausschliesslich von globalen Managern geleitet. Deren Ausbildungs- und Karriereprofil hebt sich zum Teil deutlich von demjenigen der traditionellen schweizerischen Wirtschaftseliten ab. Sie bleiben häufig ausgesperrt – oder suchen gar nicht Einlass – in den mittels Nationalität und Kooptation abgeschirmten Austauschräumen der Schweizer Eliten.

Noch stärker als innerhalb der Wirtschaftselite öffnet sich aber die Kluft zwischen internationalen Wirtschaftseliten und den immer noch sehr national orientierten Verwaltungs- und Politikeliten. Gerade auch weil die pointiert nationalistische Symbolpolitik der zur grössten Partei aufgestiegenen SVP die parlamentarische Agenda zu färben beginnt.

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Nur noch 3.4% (28) aller Verwaltungsräte der 110 wichtigsten Unternehmen nehmen 2010 unter der Bundeskuppel Platz, während es dreissig Jahre vorher noch fast 11% (91) waren. Auch die Teilnahme an ausserparlamentarischen Kommissionen nimmt bei Wirtschaftsführern rapide ab. Lediglich Mandate an der Spitze von Wirtschaftsverbänden sind bei den Schweizer Top-Managern immer noch begehrt.

Die Entflechtung der Eliten ist jedoch nicht allein auf den sich vergrössernden Anteil ausländischer Manager zurückzuführen. Im Zuge der Internationalisierung veränderten auch die Schweizer Spitzenmanager ihr Profil. Sie sind selber (noch) internationaler geworden und tauschen sich nur noch vereinzelt an den traditionellen Treffpunkten der Schweizer Eliten aus. Leicht angepasst haben sich auch die politischen und administrativen Eliten: während beispielsweise 1957 oder 1980 noch über 60% der Schweizer Spitzenbeamten Offiziere der Schweizer Armee waren, sind es im Jahr 2010 nur noch 42%. Auch die Rechtswissenschaften verlieren ihre Bedeutung als intellektuelles Bindemittel der Schweizer Eliten rapide: hatten 1980 noch 44% der Verwaltungseliten, bzw. 29.5% der Wirtschaftseliten Recht studiert, reduzieren sich diese Zahlen 2010 auf 31.5% in der Verwaltung und rund 15% in der Wirtschaft.

Schlussfolgerung : Welche neuen Elitefraktionen drängen an die Macht?

Das in der Zwischenkriegszeit entstandene Geflecht der Schweizer Eliten hat sich in den 1990er und 2000er Jahren stark ausgedünnt. Die Eliten der verschiedenen gesellschaftlichen Sphären haben sich entflochten. Vermehrt kümmern sich Schweizer Parlamentarier hauptberuflich um ihr politisches Mandat. Die Direktoren von Schweizer Grossfirmen definieren sich als Manager. Kontaktpflege mit anderen gesellschaftlichen Akteuren zählen für sie nicht mehr zu den Prioritäten – zumindest nicht mehr auf Schweizer Ebene.

Die gegenwärtige Phase ist eine Phase des Übergangs. Das alte Regime ist dahingeschmolzen, aber noch nicht von einem neuen ersetzt worden. Typischerweise entbrennen in solchen Übergangsphasen Kämpfe zwischen Platzhaltern und Herausforderern, die Situation wird unübersichtlich (Daum et al., 2014). Doch wer strebt in den politischen und wirtschaftlichen Arenen an die Macht? Im politischen Feld hat das Parlament an Relevanz gewonnen, den Debatten fehlt es jüngst nicht an politischem Pfeffer (Sciarini, 2014). Zugleich konnten sich die Exponenten der schweizerischen Volkspartei immer mehr durchsetzen und trugen so zum Niedergang der FDP bei, der emblematischen Partei des alten Filzes. Im wirtschaftlichen Feld ist die Dynamik grundverschieden: hier haben sich in den 2000er Jahren globalisierte Manager an der Spitze festgesetzt, besonders in den multinationalen Unternehmen (denken wir an Joe Jimenez, Joe Hogan, Oswald Grübel, Brady Dougan oder Tidjane Thiam). Diese Manager bestechen durch die Internationalität ihrer Karrieren; ihr Bezug zur Schweiz ist eher oberflächlich. Fazit: die politischen und ökonomischen Gewinner könnten einander nicht unähnlicher sein. Es scheint, als würden sie sich in zwei nicht kommunizierenden Universen entwickeln: hier die heimatselige, allem ausländischen und akademischen abholde SVP; dort die hyperglobalisierten, kosmopolitischen Top-Manager, geschult an den weltweit erlesensten Business Schools.

Allerdings wäre es verfehlt, eine Koalition der Gewinner auszuschliessen. Zum einen reift innerhalb der SVP eine sogenannt akademische Fraktion heran, die bezüglich Internationalität durchaus originelle, so gar nicht ans „Puurezmorge“ gemahnende Positionen vertritt. Hans Geiger, Roger Köppel, Thomas Matter und – ja – auch Christoph Blocher sind zwar gegen eine europäische Integration, aber nicht gegen Internationalität per se. Im Gegenteil reden sie einer erstaunlich scharfen Globalisierung das Wort – vorausgesetzt, die Unabhängigkeit der Schweiz bleibt dabei gewährleistet und der Zustrom von ausländischen Einwanderern wird rigide beschränkt. Statt der Einordnung ins Europäische Projekt erstreben sie einen gezielten Ausbau der Beziehungen zu China oder den USA. Zum anderen ist nicht auszuschliessen, dass die Spitzenmanager in naher Zukunft wieder an nationaler Bodenhaftung gewinnen und einen engeren Bezug zur schweizerischen Politik- und Verwaltungslandschaft suchen. Hüten wir uns davor, die Entwicklungen dieser Tage ohne statistische Erdung zu verschreien. Dennoch scheint uns klar: die künftige Eliteforschung in der Schweiz muss genau diese siegreichen Fraktionen und ihre Beziehungen zu einander in den Blick nehmen. Denn warum auch sollten die neuen Machthaber nicht versuchen, ihren Einfluss über neue Bindekräfte zu stabilisieren und zu verteidigen?

 

[1]http://www.unil.ch/obelis. In einem ergänzenden Projekt untersuchen wir aktuell auch die akademischen Eliten.

[2]Wenn wir uns nur auf die CEOs, die Verwaltungsratspräsidenten und die Verwaltungsratsdelegierte konzentrieren, ergeben sich folgende Zahlen: 1910 – 211; 1937 – 218; 257 – 215; 1980 – 186; 2000 – 186; 2010 – 200.

[3]Um auf die Zahl der Parlamentarier zu kommen müssen jeweils die 7 Bundesräte abgezogen werden.

[4]Es handelt sich hier um die Elitemitglieder die mit Sicherheit keine akademische Ausbildung haben. Die restlichen Personen besitzen entweder einen Universitätsabschluss oder aber die Daten zu ihrem Bildungsabschluss fehlen.

[5]Philipp de Weck (1983). Un Banquier suisse parle. Entretiens avec François Gross. Fribourg: Michel, p. 14-15.

[6]Nur CEOs und Verwaltungsratspräsidenten

[7]Nimmt man die 30 grössten, 2010 an der Börse kotierten Unternehmen, so sind hier gar 64% der Direktionsmitglieder ausländischer Nationalität. Dies ist auch international gesehen ein absoluter Spitzenwert: während es in Frankreich 23% und in Deutschland 27% sind, kommt lediglich Grossbritannien mit 51% einigermassen an die Schweizer Werte heran.

Anhang

Die Datenbank zur Erforschung der Schweizer Eliten

Dieser Beitrag stützt sich auf eine historisch umfassende Datenbank zu den schweizerischen Eliten im 20. Jahrhundert mit mehr als 20‘000 Einträgen. Die Elitenmitglieder wurden aufgrund ihrer institutionellen Position in der wirtschaftlichen, politischen oder administrativen Sphäre ausgewählt. Die Daten stammen aus einer Vielzahl von historischen und aktuellen Quellen. Neben dem Historischen Lexikon der Schweiz benutzten wir unter anderem verschiedene biographische Lexika, die Jahresberichte der Unternehmen, die Website des schweizerischen Parlaments oder diverse Bibliotheken und Archive. Um das 20. Jahrhundert abzudecken wählten wir die Funktionsträger dieser Sphären zu sechs Zeitpunkten aus: 1910, 1937, 1957, 1980, 2000 und 2010. Die ersten fünf Daten wurden aufgrund der Erhältlichkeit von Daten ausgewählt und decken mit einem Abstand von jeweils ungefähr 20 Jahren das 20. Jahrhundert ab. Zusätzlich wurden die Daten für das Jahr 2010 aktualisiert.

Die Gesamtstichprobe zu den politischen Eliten setzt sich jeweils aus den sieben Bundesräten, den Mitgliedern der Bundesversammlung (also des Stände- und des Nationalrates), den Mitgliedern der 26 Kantonsregierungen und der Mitglieder der Parteivorstände der Regierungsparteien zusammen (CVP, FDP, SP und SVP). Um die wirtschaftlichen Eliten zu untersuchen haben wir Daten zu folgenden Personen gesammelt: die Verwaltungsratspräsidenten, die CEOs und in gewissen Fällen auch die Verwaltungsratsdelegierten der 110 wichtigsten Unternehmen der Schweiz. Ausgewählt wurden diese 110 Unternehmen aufgrund der Anzahl der Angestellten, des Umsatzes und der Börsenkapitalisierung. Zusätzlich haben wir Informationen zu allen Mitgliedern der Vorstände der sieben wichtigsten wirtschaftlichen Interessenverbände zusammengestellt: der Schweizerischen Bankiervereinigung (SBVg), Economiesuisse, dem Schweizerischen Arbeitgeberverband, dem Schweizerischen Gewerbeverband (SGV), dem Schweizer Bauernverband (SBV), dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) und dem Christlich nationalen Gewerkschaftsbund der Schweiz (CNG). Die Verwaltungseliten umfassen den Bundeskanzler und dessen Vize, die Generalsekretäre der Bundesdepartemente und deren Adjunkten, alle Amtsdirektoren der Bundesämter, die Direktoren der Schweizer Nationalbank und die Bundesrichter. Zusätzlich verfügen wir für alle fünf Vergleichspunkte über Daten zu den Mitgliedern von Extra-parlamentarischen Kommissionen.

Zu all diesen Personen besitzen wir eine Vielzahl von biographischen Angaben. Für diesen Beitrag verwendeten wir insbesondere das Geschlecht, das Bildungsniveau (ohne akademische Bildung, Lizentiat oder Master, Doktorat), die Nationalität (Schweiz, Europa, andere Länder) und den Militärischen Grad (wir unterscheiden Elitemitglieder mit Offiziersgrad von jenen ohne). Zudem konstruierten wir Variablen bezüglich ihrer Zugehörigkeit in verschiedenen Gremien: Verwaltungsräte, ausserparlamentarische Kommissionen, Parlament oder Vorstände der Wirtschaftsverbände.

Ein Teil unserer Datenbank ist öffentlich zugänglich: http://www.unil.ch/obelis

 

 

 

 

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