Die Regularisierung der Sans-Papiers im Kanton Genf

N°36, Dezember 2023
Giovanni Ferro-Luzzi (Universität Genf & HES-SO/HEG Genf), Jan-Erik Refle (Universität Genf), Claudine Burton-Jeangros (Universität Genf) & Yves Jackson (Universitätskrankenhaus Genf),

December 11, 2023
How to cite this article:

Ferro-Luzzi, G., Refle, J.-E., Burton-Jeangros, C. & Jackson, Y. (2023). Die Regularisierung der Sans-Papiers im Kanton Genf. Social Change in Switzerland, N°36. doi: 10.22019/SC-2023-00008

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Zusammenfassung

Die Operation Papyrus war ein einmaliges Instrument in Genf von 2017 bis 2018 zur Regularisierung eines Teils der Bevölkerung, der keine gültigen Aufenthaltspapiere besass («Sans-Papiers»). Es wurden strenge Kriterien aufgestellt, um eine transparente und gleiche Bearbeitung der eingereichten Dossiers sicherzustellen. Dieser Artikel befasst sich mit den Auswirkungen der Regularisierung auf die Integration von neu regularisierten Personen in den Arbeitsmarkt. Anhand von Längsschnittdaten, die unter den betroffenen Personen erhoben wurden, kann die Lebenswirklichkeit dieser Personen nach Änderung ihres Status erfasst werden. Unsere Ergebnisse weisen darauf hin, dass sich die Situation von neu regularisierten Personen auf dem Arbeitsmarkt durch die Operation Papyrus nicht schnell geändert hat. Ihre Arbeitsbedingungen verbessern sich de facto nur geringfügig und sie sind vorwiegend weiterhin in denselben Branchen tätig, nämlich im Haushaltssektor und im Hotel- und Gaststättengewerbe. Trotz anhaltend niedriger Einkommen wird jedoch nur selten Sozialhilfe in Anspruch genommen.


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Einleitung

Im Februar 2017 kündigte der Genfer Staatsrat die Operation Papyrus an. Ziel dieses Pilotprojekts war es, Personen ohne Aufenthaltstitel auf der Grundlage bestimmter objektiver Kriterien zu regularisieren: keine Vorstrafen, finanzielle Unabhängigkeit durch Erwerbstätigkeit, Aufenthaltsdauer in Genf von mindestens 10 Jahren für Einzelpersonen/5 Jahren für Familien, und Französischkenntnisse auf Niveau A2. Das Projekt wurde von 2017 bis 2018 in Zusammenarbeit mit dem Staatssekretariat für Migration (SEM) durchgeführt. In diesem Rahmen erhielten 2883 Personen eine B-Bewilligung, davon 1676 (58,1 %) im Rahmen eines Antrags als Familienangehörige (Bundesrat 2020).

Die Operation Papyrus hat viele Fragen auf rechtlicher, sozialer und wirtschaftlicher Ebene aufgeworfen. Die Schwarzarbeit stellt die staatliche Fähigkeit in Frage, Migrationsströme und Arbeitsverhältnisse zu kontrollieren, und bedeutet gleichzeitig einen erheblichen Verlust von Sozialversicherungs- und Steuereinnahmen für den betroffenen Staat. Ausserdem wirft die Schwarzarbeit ethische Fragen im Hinblick auf den fehlenden Schutz gefährdeter Personen und auf skrupellose Arbeitgeber:innen auf, die sich nicht an die Gesetze über Arbeitsbedingungen halten.

Die Regularisierung von Arbeitsmigrant:innen ohne gültige Aufenthaltspapiere ist an sich nichts Neues. Viele Länder haben sich ihrer bedient, manchmal mehrfach und unter mehr oder weniger strengen Bedingungen. Solche Regularisierungsprogramme wurden vor allem in südeuropäischen Ländern eingeführt, insbesondere in Form von „Massenamnestien“ (Chauvin et al., 2013). Im Rahmen einer kürzlich in Irland durchgeführten Massnahme wurden im Jahr 2022 rund 5000 Personen regularisiert, wobei die Einmaligkeit und zeitliche Begrenzung der Massnahme hervorgehoben wurde. Insgesamt ist die Zahl der Regularisierungsprogramme, die dauerhafte und andere Ad-hoc-Mechanismen kombinieren, in Europa jedoch überschaubar (Heylin & Triandafyllidou, 2023).

Während in der Schweiz in der Vergangenheit bereits individuelle Regularisierungen durchgeführt wurden, besteht die Neuheit der Operation Papyrus darin, dass der Arbeitsmarkt sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite „bereinigt“ werden soll. Integrierten und finanziell unabhängigen Personen wird von Fall zu Fall ein legaler Aufenthaltsstatus zuerkannt, und Arbeitgeber:innen, die ihre Beschäftigten nicht der Sozialversicherung melden oder Löhne unter dem gesetzlichen Mindestlohn zahlen – vor allem in privaten Haushalten sowie im Hotel- und Gaststättengewerbe – erhalten starke Anreize, die Vorschriften analog zu anderen Branchen einzuhalten. Aufgrund dieses Anwendungsrahmens unterscheidet sich die Operation Papyrus deutlich von Generalamnestien, die in anderen europäischen Ländern und in den Vereinigten Staaten praktiziert werden. Die Operation Papyrus zielte de facto auf Standardprofile ab, die eine Reihe von Kriterien erfüllten, wobei auf Fallbasis vorgegangen wurde. Dossiers, die die Kriterien nicht erfüllten, wurden abgelehnt, während gleichzeitig der willkürliche und undurchsichtige Charakter des vorhergehenden Regularisierungssystems eingeschränkt wurde. Die Operation Papyrus erforderte keine Gesetzesänderung, da der gesetzliche Rahmen (Art. 30 Abs. 1 Bst. b AIG und Art. 31 der Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit, VZAE; SR 142.201) weiterhin zur Anwendung kam, jedoch mit einer einheitlichen und kohärenten Auslegung, die auf expliziten Kriterien im Kanton Genf beruhte[1].

Die Herausforderungen der Regularisierung

Um die Auswirkungen der Regularisierung auf den Genfer Arbeitsmarkt zu beschreiben, befassen wir uns mit zwei Fragen, die mit den politischen Debatten rund um die Operation Papyrus in Verbindung stehen:

  1. Trägt die Regularisierung zu einer Verbesserung der wirtschaftlichen Situation der regularisierten Personen bei?
  2. Erhöht die Regularisierung das Risiko, dass regularisierte Personen Sozialhilfe beziehen?

Die erste Frage betrifft den Effekt der erweiterten Möglichkeiten, die mit der Regularisierung in Zusammenhang stehen. Durch die Regularisierung unterliegen Personen, die eine B-Bewilligung erhalten haben, denselben Bedingungen wie alle anderen Personen, die dieselbe Bewilligung erhalten haben. Somit haben Arbeitgeber:innen weniger Möglichkeiten, deren prekäre Situation auszunutzen. Eine regularisierte Person, die mit ihren Arbeitsbedingungen nicht zufrieden ist, kann leichter eine andere Arbeitsstelle suchen oder ihre Beschäftigungsquote bei Arbeitgeber:innen erhöhen, die sich an die Regeln halten. Diese Veränderung wurde durch die Operation Papyrus begünstigt, um keine Verzerrungen auf dem Arbeitsmarkt zu verursachen. In Verbindung mit der Regularisierung der Arbeitsbedingungen ist zu erwarten, dass sich die wirtschaftliche Situation von neu regularisierten Personen verbessert. Eine politische Sorge in Bezug auf die Regularisierung von Personen ohne Aufenthaltsstatus betrifft jedoch eine mögliche Sogwirkung: Die Regularisierung könnte neue Sans-Papiers in die frei gewordenen Arbeitsplätze von regularisierten Personen locken (Boswell & Straubhaar 2004).

Bezüglich der zweiten Frage zur Inanspruchnahme von Sozialhilfe wies die Operation Papyrus zwei Besonderheiten auf. Zum einen begegnen Personen ohne legalen Aufenthaltsstatus aufgrund ihrer Rechtsstellung den staatlichen Einrichtungen in der Regel mit Misstrauen und Angst. Zum anderen sind die Erteilung einer auf ein oder zwei Jahre befristeten B-Bewilligung und deren regelmässige Verlängerung an die Nichtinanspruchnahme von Sozialhilfe geknüpft. Es ist daher schwer vorstellbar, dass diese Personen sich nach der Regularisierung auf Sozialhilfe stürzen.

Die Operation Papyrus wurde mit dem ausdrücklichen Ziel der Normalisierung der Hauswirtschaftsbranche entwickelt, in der viele Personen ohne legalen Aufenthaltsstatus beschäftigt sind. Durch die Normalisierung sollte sichergestellt werden, dass die Beschäftigungsbedingungen dem Normalarbeitsvertrag, der Mindestvergütung und der Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen durch die Arbeitgeber:innen entsprechen. Die Hauswirtschaftsbranche ist traditionell anfälliger für Verstösse gegen die gesetzlichen Vorgaben zu Arbeitsbeziehungen, da Arbeitgeber:innen (manchmal auch Arbeitnehmer:innen ohne gültige Aufenthaltspapiere) aufgrund der finanziellen Mehrkosten, aber auch aufgrund der Unkenntnis des gesetzlichen Rahmens die Meldung des Arbeitsverhältnisses und die Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen scheuen. Darüber hinaus hat der Staat Schwierigkeiten, einen vorwiegend in privaten Haushalten angesiedelten Tätigkeitsbereich zu überwachen. Eine Informationskampagne mit abschreckenden Warnungen hat zahlreiche Privathaushalte während der Operation Papyrus dazu veranlasst, den Vorschriften nachzukommen. Das kantonale Arbeitsinspektorat (Office Cantonal de l’Inspection du Travail) hat im Jahr 2017 gegenüber 2016 einen Anstieg der Mitglieder von «Chèque Service» um 36 % festgestellt. Dieser Dienst erleichtert die Meldung eines Beschäftigungsverhältnisses im Haushalt und die Zahlung der Sozialversicherungsbeiträge und der entsprechenden Steuern. Zudem wurde eine Jobbörse für die Hauswirtschaftsbranche eingerichtet, um regel- und gesetzeskonforme Arbeitsbeziehungen zu fördern.

Zwei Datenbanken zu Sans-Papiers und regularisierten Personen

Zur Beantwortung unserer Fragen nutzen wir zwei Datenbanken. Zum einen werden die Daten verwendet, die im Rahmen des Evaluationsauftrags des Departements für Wirtschaft und Sicherheit an das IREG genutzt wurden (Ferro-Luzzi et al. 2019). Diese Datenbank umfasst 543 Personen, davon 304 Sans-Papiers und 239 zwischen 2015 und 2019 regularisierte Personen, die einmalig im Zeitraum von 2017 bis 2019 befragt wurden. Zum anderen stammen die Daten aus der Parchemins-Studie, die die Auswirkungen der Regularisierung auf die Gesundheit und den Lebensverlauf von Arbeitsmigrant:innen ohne gültige Aufenthaltspapiere misst (Jackson et al. 2019, Refle et al., wird demnächst veröffentlicht). Die Parchemins-Studie wurde vom Schweizerischen Nationalfonds sowie verschiedenen öffentlichen und privaten Einrichtungen finanziert. Im Rahmen der Studie wurden Sans-Papiers und regularisierte Personen von 2017 bis 2022 in vier Wellen der Datenerhebung begleitet, wobei die Stichprobe in der ersten Welle 468 umfasste und in der letzten Welle 260 Personen[2] (Abbildung 1).

Abbildung 1: Parchemins-Studie: Status der Teilnehmenden

Daten: Parchemins-Studie

Da es sich um zwei verschiedene Datenbanken handelt, unterscheiden sich die befragten Personen geringfügig, insbesondere bezüglich der Tätigkeitsbereiche, wobei in der Parchemins-Studie mehr Personen in der Hauswirtschaft tätig waren (Ferro-Luzzi et al. 2019; Jackson et al. 2022). Diese beiden Stichproben decken nur die Teilgruppe der Personen ab, die dauerhaft in Genf ansässig sind. Schliesslich wurde eine „Kontrollgruppe“ durch die Einbeziehung von Personen ohne gültigen Aufenthaltsstatus gebildet, denen ein oder zwei Jahre Aufenthalt fehlten, um an der Operation Papyrus teilnehmen zu können.

Wer sind die Sans-Papiers, die dauerhaft im Kanton Genf leben?

Das typische Profil einer Person ohne legalen Aufenthaltsstatus, die sich dauerhaft in Genf niedergelassen hat, ist eine Frau um die vierzig aus Lateinamerika, die eine Sekundarbildung absolviert hat und in der Hauswirtschaftsbranche tätig ist. Fast drei Viertel der regularisierten Personen und mehr als zwei Drittel der Sans-Papiers sind Frauen (vgl. Tabelle 1).

Als Hauptgründe für ihre Migration gaben die meisten wirtschaftliche Gründe sowie den Wunsch einer besseren Zukunft für ihre Kinder an. Zwei Drittel der Personen stammen aus Lateinamerika (vorwiegend aus Brasilien und Bolivien), ein kleinerer Teil kommt aus Asien (20 %, hauptsächlich von den Philippinen) und eine kleine Minderheit aus Afrika und Europa ausserhalb der EU/EFTA. Oftmals senden die Teilnehmenden einen Teil ihres Einkommens in ihr Heimatland, in dem ihre Kinder verblieben sind. Mehr als die Hälfte der regularisierten Befragten hat mindestens einen Sekundarschulabschluss und ein Fünftel einen Tertiärabschluss (Universität oder Hochschule). Für die meisten Arbeitsstellen, die diese Personen in Genf ausüben, ist jedoch keine nachobligatorische Ausbildung erforderlich.

Zu Beginn der Operation Papyrus war der Hauptbeschäftigungssektor die Hausarbeit, in dem vor allem Frauen tätig sind (Haushalt, Kinderbetreuung und Seniorenbetreuung), gefolgt vom Bau- sowie Hotel- und Gaststättengewerbe, in dem vor allem Männer arbeiten (siehe Tabelle 1). Weitere Personen arbeiten in verschiedenen Dienstleistungsbereichen (Umzugsdienste, Industriereinigung, Verkauf, Gesundheit, Coiffure, Kosmetik usw.).

Tabelle 1: Profil der Teilnehmenden der Parchemins-Studie

 Alle FrauenMänner
Alter (Median, Standardabweichung, N)44,1 (10,5) 46845,4 (10,6) 33740,8 (9,5) 131
In einer Partnerschaft lebend (%, N)47 %, 46841 %, 33764 %, 131
Herkunftsregion (%, N)
Osteuropa9 %, 401 %, 329 %, 37
Lateinamerika64 %, 29972 %, 24145 %, 58
Afrika8 %, 355 %, 1615 %, 19
Südostasien20 %, 9323 %, 7712 %, 16
Aufenthaltsjahre in Genf (Median, Standardabweichung, N)11,7 (5,4), 46711,8 (5,2), 33711,5 (5,8), 130
Branche (%, N)
Hauswirtschaftsbranche72 %, 29790 %, 27818 %, 19
Baugewerbe7 %, 270,0 %, 026 %, 27
Hotel- und Gaststättengewerbe9 %, 383 %, 829 %, 30
Sonstige Dienstleistungen8 %, 314 %, 1119 %, 20
Sonstige Branchen (Landwirtschaft, Industrie)5 %, 204 %, 137 %, 7
Geldtransfer (% ja, N)66 %, 46370 %, 33356 %, 130
Ist fähig, eine unvorhergesehene Rechnung von CHF 1500 zu bezahlen (% ja, N)34 %, 46631 %, 33542 %, 131
Daten: Parchemins

Diese Personen sind häufig für mehrere Arbeitgeber:innen und unregelmässig tätig. Sie können teilweise oder vollständig auf Abruf stehen, wobei die variable Arbeitsbelastung durch Zeiten der Inaktivität unterbrochen werden kann. Laut den Beschäftigungsdaten der Parchemins-Studie arbeiten Männer durchschnittlich 38 Stunden pro Woche und Frauen durchschnittlich 32 Stunden. Regularisierte Personen arbeiten im Wochendurchschnitt 35 Stunden, Sans-Papiers hingegen weniger als 30 Stunden pro Woche (Abbildung 2). Im Vergleich zu Männern sind Frauen im Schnitt für mehr Arbeitgeber:innen tätig.

Abbildung 2: Arbeitsstunden pro Woche

Daten: Parchemins-Studie

Der Arbeitsumfang richtet sich nach der Branche. Ohne die während der COVID-19-Pandemie geleisteten Arbeitsstunden zu berücksichtigen, werden in der Hauswirtschaftsbranche durchschnittlich 32 Stunden pro Woche, im Hotel- und Gaststättengewerbe 41 Stunden und im Baugewerbe 42 Stunden gearbeitet. Die COVID-19-Pandemie hatte besonders starke Auswirkungen auf das Hotel- und Gaststättengewerbe, wobei die Arbeitszeit durchschnittlich um zehn Stunden pro Woche reduziert wurde. Der Rechtsstatus ist entscheidend für die Meldung von Beschäftigungsverhältnissen bei der Sozialversicherung. Der Anteil der gemeldeten Beschäftigungsverhältnisse beträgt für Personen ohne gültigen Aufenthaltsstatus 41 %, während der Anteil sechs Monate nach der Regularisierung auf 85 % steigt.

Im Hinblick auf die berufliche Mobilität nach der Regularisierung zeigen die Daten, dass 95 % der Arbeitsbeziehungen nach sechs Monaten unverändert blieben und sich dieser Anteil anschliessend bei 79 % stabilisiert hat. Dies deutet darauf hin, dass etwa jede fünfte Person mittelfristig ihren Arbeitsplatz wechselt, was über den 9 % bei der Wohnbevölkerung liegt (BFS, 2019). Die Parchemins-Daten bestätigen, dass es auch Jahre nach der Regularisierung keine schnellen und massiven Veränderungen in den Beschäftigungssektoren gibt. Die Hauptmotivation für einen Arbeitsplatzwechsel ist der Wunsch, das eigene Einkommen (45 %), aber auch die Arbeitszeiten (21 %) zu erhöhen und die Branche (19 %) zu wechseln. Die Schwierigkeit, eine neue Arbeitsstelle zu finden, erklärt sich durch die oft enttäuschte Hoffnung von Menschen, die für ihre aktuelle Tätigkeit überqualifiziert sind, verbunden mit der Nichtanerkennung ausländischer Abschlüsse sowie begrenzter Französischkenntnisse. Der Anteil derjenigen, die bei der Arbeitssuche erfolglos sind, liegt bei den Sans-Papiers bei über 60 %, während er bei regularisierten Migrant:innen auf 40% sinkt, da sich ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessert haben.

Eine Schätzung des mittleren Stundenlohns ergibt einen Nettolohn für Sans-Papiers von rund CHF 15 pro Stunde, während regularisierte Personen vor der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns im Kanton Genf im Jahr 2020 einen Netto-Stundenlohn von CHF 19 erhielten. Die Netto-Stundenlöhne betrugen nach der Einführung des Mindestlohns 2020/2021 CHF 17 bzw. CHF 22. Auch wenn uns – insbesondere in Bezug auf die Sozialabgaben – nur teilweise Informationen vorliegen, zeigen die Daten, dass für die meisten regularisierten Personen der Mindestlohn (CHF 23 brutto pro Stunde im Jahr 2020) eingehalten wird. Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns scheint jedoch sowohl zu einem Anstieg der Löhne der regularisierten Migrant:innen als auch der Löhne der Sans-Papiers geführt zu haben.

Wirtschaftliche Situation

Eines der Kriterien bei der Bewertung von Dossiers ist die wirtschaftliche Unabhängigkeit, um das Risiko der Inanspruchnahme von Sozialhilfe zu begrenzen. Einkommens- und Vermögensdaten lassen sich bekanntermassen nur schwer erfassen, insbesondere für diesen Teil der Bevölkerung.

Wenig überraschend deuten die Daten auf ein recht niedriges Haushaltsnettoeinkommen hin, wobei das mittlere Nettoeinkommen pro Monat und regularisiertem Haushalt rund CHF 3000 beträgt (was einem Bruttoeinkommen von rund CHF 3500 pro Monat entspricht). Die finanzielle Prekarität ist bei Sans-Papiers grösser, die über ein mittleres Nettoeinkommen von CHF 1800 pro Monat verfügen (Abbildung 3). Der Vergleich der beiden Gruppen deutet nicht auf eine wesentliche Verbesserung der wirtschaftlichen Situation im Laufe der Zeit hin.

Um der Grösse des Haushalts Rechnung zu tragen, wird das Einkommen in der Regel „normalisiert“, indem man es dem Einkommen einer allein lebenden Person als Äquivalent gleichstellt. Für regularisierte Befragte beträgt das mittlere verfügbare monatliche Äquivalenzeinkommen rund CHF 2600, womit diese Personen am unteren Ende der Einkommensverteilung innerhalb der Wohnbevölkerung liegen[3]. Für die Sans-Papiers liegt der Medianwert bei rund CHF 1600 pro Monat. Basierend auf diesem Indikator beläuft sich die Armutsgefährdungsquote[4] bei den Sans-Papiers auf über 70 %, während sie bei regularisierten Haushalten auf unter 50 % fällt. Ausserdem besteht ein bemerkenswerter Unterschied zwischen der Armutsgefährdung von Männern (40-50 %) und der Armutsgefährdung von Frauen (50-65 %).

Abbildung 3: Nettohaushaltseinkommen

Daten: Parchemins-Studie

Wie sieht es mit der Sozialhilfe aus? Weniger als 1 % der Befragten der Parchemins-Studie hatten sich an das Hospice général gewandt. Während der COVID-19-Pandemie haben 5% der regularisierten Teilnehmenden vorübergehend Sozialhilfe in Anspruch genommen. Dieser Anteil liegt weiterhin unter dem Wert von 6,7%, der 2021 in der Wohnbevölkerung des Kantons Genf festgestellt wurde (Bundesamt für Statistik, 2022). Angesichts der Auswirkungen der Pandemie auf bestimmte Sektoren wie das Gastgewerbe ist diese Zahl weiterhin niedrig, sodass keine massive Inanspruchnahme von Sozialhilfe festgestellt wird.

Unsere Daten weisen darauf hin, dass die Pandemie die Entwicklung der positiven Effekte, die mit dem Erhalt einer Aufenthaltsbewilligung einhergehen, verzögert hat und zu einer starken Instabilität bei Personen ohne gültige Aufenthaltspapiere geführt hat (Burton-Jeangros et al. 2020). Letztere verloren unter anderem mehr Arbeitsstunden und ihr Einkommen ist somit stärker gesunken. Regularisierte Personen hingegen wurden durch eine Art „Sicherheitsnetz“ begünstigt, da sie Zugang zu Sozialleistungen hatten, auf die Sans-Papiers keinen vollen Anspruch haben.

Schlussfolgerung

Die im Kanton Genf durchgeführte Operation Papyrus liefert für die Migrationspolitik in der Schweiz wertvolle Erkenntnisse. Die gelernten Lektionen können für andere Kantone in mehrfacher Hinsicht von Interesse sein. Zunächst beruhte diese Regularisierungspolitik auf strengen Bedingungen der Integration und finanziellen Unabhängigkeit unter Einhaltung der bereits bestehenden Rechtsvorschriften. Sie hat zu einer Normalisierung der Arbeitsbeziehnungen in Sektoren beigetragen, in denen es noch Schwarzarbeit gibt, insbesondere in der Hauswirtschaftsbranche. Die Analyse der Längsschnittdaten deutet nicht auf das Vorhandensein erheblicher Verzerrungen am Arbeitsmarkt hin, wie etwa die mögliche massive Abwanderung von regularisierten Personen in andere Branchen, deren danach unbesetzte Stellen andere Migrant:innen ohne gültige Aufenthaltspapiere anlocken könnten, um sie zu ersetzen. Auch wenn diese Annahme nicht direkt überprüft werden kann, scheint die relative Stabilität der Arbeitsbeziehungen vor und nach der Regularisierung nicht auf eine massive Abwanderung hinzudeuten (selbst wenn die regularisierten Personen versuchen, ihre berufliche Situation zu diversifizieren und zu verbessern). Aufgrund des hohen Risikos, bei der Beantragung von Sozialhilfe die Aufenthaltsbewilligung zu verlieren, haben nur sehr wenige Personen Sozialhilfe in Anspruch genommen. Bei den neu regularisierten Personen ist eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation zu beobachten, die eher von kurzfristiger Dauer ist.

Die Operation Papyrus ermöglicht es den Behörden vor allem, eine als heuchlerisch empfundene Situation zu beenden, in der die Anwesenheit von Migrant:innen ohne Aufenthaltsbewilligung toleriert wird, um sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnissen gerecht zu werden, und gleichzeitig das Fortbestehen von strukturiertem Missbrauch akzeptiert wird. Die in Genf entwickelte Regularisierungspolitik trägt letztlich zu einer gerechteren und konsequenteren Anwendung des Ausländergesetzes bei, indem die bis dahin übliche Willkür bei der Beurteilung von Einzelfällen eingeschränkt wird. Dies erfordert natürlich Mittel durch den Staat, der aber auf verschiedenen Ebenen Vorteile dadurch erhält, insbesondere durch neue Sozialversicherungsbeiträge, und zwar ohne Anstieg der Sozialhilfeleistungen. Die Kampagne zur Sensibilisierung der Arbeitgeber:innen in der Hauswirtschaftsbranche bewirkte zudem, dass die Arbeiternehmer:innen, einschliesslich der Sans-Papiers, besser durch die Sozialversicherungen abgedeckt werden.

Danksagung

Wir danken Aline Duvoisin für ihre Arbeit mit den Daten.

  1. Die institutionelle Entwicklung im Hinblick auf das Thema Sans-Papiers in der Schweiz wird im ersten Teil des vom Staatsrat beauftragten Berichts detailliert beschrieben (Ferro-Luzzi, et al., 2019).
  2. Die Hilfsorganisationen für Migrant:innen, die an der Entwicklung der Operation Papyrus mitwirkten, leisteten wertvolle Hilfe bei der Rekrutierung der Teilnehmenden.
  3. In der Schweiz beläuft sich das mittlere verfügbare Äquivalenzeinkommen 2016 auf CHF 4121 (BFS).
  4. Dieser Schwellenwert entspricht 60 % des Medians des verfügbaren Äquivalenzeinkommens in der Schweizer Wohnbevölkerung im Jahr 2021 (Bundesamt für Statistik, 2021).

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