Die Entwicklung der Parteibindungen in der Schweiz 1971-2019

N°34, Juli 2023
Anke Tresch (FORS & Universität Lausanne), Line Rennwald (FORS & Universität Lausanne), Lukas Lauener (FORS),

July 3, 2023
How to cite this article:

Tresch, A., Rennwald, L., & Lauener, L. (2023). Die Entwicklung der Parteibindungen in der Schweiz 1971-2019. Social Change in Switzerland, N°34. doi: 10.22019/SC-2023-00004

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Zusammenfassung

Parteibindungen wirken als Orientierungshilfe bei der Aufnahme politischer Informationen und beeinflussen den Wahlentscheid zugunsten der Partei, der man sich nahe fühlt. Dieser Beitrag untersucht die Entwicklung der Parteibindungen in den letzten vier Jahrzehnten in der Schweiz. Er zeigt auf, dass sich der Anteil Personen, die sich einer Partei nahe fühlen, zwischen 1971 und 1999 praktisch halbiert hat und seither auf tiefem Niveau stagniert, bei rund 30 Prozent. Während Parteigebundene ihre Stimme grossmehrheitlich ihrer bevorzugten Partei geben, ist der Wahlentscheid der Parteiungebundenen heterogener. Aufgrund ihrer wachsenden Zahl wurden die Parteiungebundenen – Personen, die sich keiner Partei nahe fühlen – aber für die Wählerstärke der Parteien im Vergleich zu den 1970er Jahren wichtiger. Neben den Nicht-Regierungsparteien erzielte seit 1999 vor allem die SVP bei den Parteiungebundenen überdurchschnittliche Ergebnisse. Parteiungebundene sind eher weiblich, jünger, konfessionslos, ohne Hochschulabschluss und einkommensschwächer. Politisch zeichnen sie sich durch ihre EU-skeptische Haltung und ihre Ablehnung von erhöhten Sozialausgaben aus.


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Einleitung

Die eidgenössischen Wahlen 2019 waren von historischen Wählerverschiebungen geprägt: Die vier Regierungsparteien FDP, CVP, SP und SVP mussten zusammengerechnet ihr schlechtestes Wahlergebnis seit Einführung des Proporzwahlrechts 1919 hinnehmen und erreichten nur 68.9 Prozent der Stimmen. Die SVP verlor gar zwölf Sitze im Nationalrat, was den grössten Sitzverlust einer Partei seit 1919 darstellt. Viele Nicht-Regierungsparteien konnten hingegen Wahlgewinne verbuchen, allen voran die Grünen, die mit +17 Sitzen den grössten Sitzgewinn einer Partei seit 1919 erreichten und die CVP gemessen am Wähleranteil erstmals überflügelten.

Diese Beispiele sind Ausdruck eines längerfristigen Wandels der Wahl- und Parteienlandschaft in der Schweiz, der sich seit den 1970er Jahren in einer zunehmenden Fragmentierung des Parteiensystems sowie einer vermehrten Wählervolatilität spiegelt (Nabholz, 1998; Ladner et al., 2022). Diese Volatilität lässt sich sowohl auf der Aggregatsebene, d.h. den prozentualen Stimmenanteilen der Parteien, als auch auf Ebene des individuellen Wahlentscheids beobachten. In der Politikwissenschaft wird diese neue Instabilität einerseits häufig mit dem Bedeutungsverlust der traditionellen gesellschaftlichen Konfliktlinien wie Klasse oder Religion in Verbindung gebracht (Best, 2011), andererseits aber auch mit der Erosion der langfristigen Parteibindungen (Dalton, 2002). Aus dieser Sicht beruht der individuelle Wahlentscheid immer weniger auf der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der Identifikation mit einer Partei, sondern zusehends auf kurzfristigen Faktoren wie den Themenpräferenzen oder den Persönlichkeitsmerkmalen der Kandidierenden (z.B. Garzia, 2013). Für die Parteien und Kandidierenden bedeutet dies, dass sie sich nicht mehr auf ihre angestammten Wählerschichten verlassen können, sondern sich stets neu um deren Unterstützung bemühen und gleichzeitig neue und ungebundene Wählerschaften für sich erschliessen müssen.

In der Schweiz ist der Einfluss von Klassenunterschieden und Religionszugehörigkeit auf das Wahlverhalten und die Verschiebungen im Parteiensystem gut erforscht (z.B. Goldberg, 2017; Oesch & Rennwald, 2010; Rennwald 2015). Über die Entwicklung der Parteibindungen ist hingegen wenig bekannt (siehe jedoch Nabholz, 1998). Vor diesem Hintergrund untersucht dieser Beitrag, wie sich die Parteibindungen in der Schweiz seit den 1970er Jahren entwickelt haben. Lässt sich in der Schweiz tatsächlich ein Niedergang der langfristigen Parteibindungen feststellen? Welche Parteien sind besonders betroffen? Welche Partei kann bei den Parteiungebundenen die grössten Wähleranteile erzielen? Durch welche sozialen und politischen Merkmale zeichnen sich Personen ohne Parteibindungen im Vergleich mit jenen aus, die einer Partei nahestehen? Und gibt es Verschiebungen über die Zeit? Diese Fragen werden hier mithilfe von Daten aus Nachwahlbefragungen seit 1971 beantwortet.

Parteibindung in der Wahlforschung

Der Begriff der Parteibindungen – auch Parteineigung oder Parteiidentifikation genannt – geht auf das sozialpsychologische Erklärungsmodell des Wahlverhaltens zurück (Campbell et al., 1960). Dieses versteht die Parteibindung als eine langfristig stabile, affektive Bindung an eine Partei, die während der politischen Sozialisierung im Elternhaus erworben wird. Anders als die formale Mitgliedschaft in einer Partei beinhaltet die Parteibindung kein institutionalisiertes Verhältnis zu einer Partei; vielmehr kann sie als «psychologische Mitgliedschaft» bezeichnet werden, ähnlich dem Zugehörigkeitsgefühl zu einer sozialen Klasse oder einer Konfession. Parteibindungen wirken als Filter und Orientierungshilfe bei der Aufnahme und Verarbeitung politischer Informationen und beeinflussen die politische Meinungsbildung. So färben die Parteibindungen die individuellen Einstellungen zu Sachthemen sowie die Bewertung von Kandidierenden und wirken sich damit direkt und indirekt auf den Wahlentscheid aus. Wer sich mit einer politischen Partei identifiziert, betrachtet Politik eher aus einer parteipolitischen Perspektive und sympathisiert mit den Kandidierenden der bevorzugten Partei und den von ihnen vertretenen Sachpositionen. Umgekehrt begegnen Parteigebundene der Politik der anderen Parteien mit grösserer Skepsis. Parteibindungen sind somit ein stabilisierendes Element des individuellen Wahlverhaltens: Parteigebundene neigen dazu, ihre bevorzugte Partei immer wieder zu wählen. Ausserdem wirkt die Parteibindung politisch integrativ und mobilisierend: Wer sich mit einer Partei identifiziert, hat ein höheres politisches Interesse, geht eher wählen, besucht eher Wahlkampfveranstaltungen und beteiligt sich eher als Wahlkampfhelfer/in als Personen ohne Parteineigung (Campbell et al., 1960; Verba et al., 1978).

Parteibindungen sind somit für die politischen Parteien eine wichtige Ressource. Parteien müssen daher bestehende Parteiidentifikationen dauerhaft festigen und verstärken. Dazu müssen sie klare und ideologisch konsistente Positionen einnehmen (Dassonneville et al., 2023). Dennoch sind Parteibindungen nicht unverrückbar, sondern scheinen sich in vielen westlichen Demokratien zu lockern (Dalton, 2002). Dies hat auch damit zu tun, dass in vielen Ländern die grossen Traditionsparteien ihre Positionen angeglichen haben und sie für die Wählenden weniger unterscheidbar wurden, sodass sie nur noch bedingt als Orientierungshilfen dienen können (z.B. Green & Hobolt, 2008). Obwohl die jüngst zunehmende Polarisierung diesem Trend entgegenwirken könnte (Lupu, 2015), sind umgekehrt viele Wählende dank dem generell steigenden Bildungsniveau und der Informationsflut in den Massenmedien weniger auf diese Orientierungshilfen angewiesen. Vielmehr sind die Wählenden selbst in der Lage, sich mit komplexen politischen Themen auseinanderzusetzen und sich ihre eigene Meinung zu bilden (Dalton, 1984, 2002). Dies bedeutet, dass der Wahlentscheid einer wachsenden Anzahl Wählerinnen und Wähler weniger vorhersehbar ist und sich die Parteien zunehmend um Parteiungebundene bemühen müssen. Doch wie stark die Parteibindungen tatsächlich nachlassen, ist in der internationalen Forschung umstritten (Dassonneville, 2023; Holmberg & Oscarsson, 2020; Rahat & Kenig, 2018) und für die Schweiz wenig erforscht.

Daten

Die Studie beruht auf einem kumulativen Datensatz von Nachwahlbefragungen in der Schweiz zwischen 1971 und 2019, an denen insgesamt über 40’000 Stimmberechtigte teilgenommen haben (Selects, 2021). Die Wahlforschung in der Schweiz war lange Zeit von der Initiative einzelner Forschender abhängig, bevor 1995 die nationale Wahlstudie «Selects» im Zusammenschluss der politikwissenschaftlichen Institute der Universitäten Bern, Genf und Zürich gegründet wurde und seither vom Schweizerischen Nationalfonds finanziert wird (www.selects.ch). Seit 2008 wird Selects am Kompetenzzentrum Sozialwissenschaften FORS durchgeführt. Trotz stetiger methodischer Erneuerungen (z.B. hinsichtlich Stichprobenziehung und Erhebungsmethode) bleiben viele Messinstrumente über die Zeit konstant, um Längsschnittanalysen zu ermöglichen.

Die Parteibindungen werden in der Schweiz seit den eidgenössischen Wahlen von 1971 erhoben, seit 1995 mittels folgender Fragen: «Stehen Sie gewöhnlich einer politischen Partei nahe?», und «Um welche Partei handelt es sich?»[1]. Personen, die angeben, keiner politischen Partei nahezustehen oder die auf die zweite Frage keine bestimmte Partei bezeichnen können, werden nachfolgend als Parteiungebundene behandelt. Befragte, die sich gewöhnlich mit einer Partei verbunden fühlen und diese Partei benennen können, werden hingegen als Parteigebundene betrachtet. Es wird somit nur zwischen dem Vorhandensein und der Abwesenheit einer parteipolitischen Verbundenheit unterschieden, unabhängig von der Stärke dieser Bindung. Die vergleichende Untersuchung von Dassonneville (2023) zeigt, dass die Unterscheidung zwischen starker und schwacher Parteiidentifikation nur wenige Erkenntnisgewinne bringt. Daher beschränken wir uns nachfolgend auf die einfache Unterscheidung zwischen Personen mit und ohne Parteibindung.

Der (retrospektive) Wahlentscheid sowie zentrale soziale Merkmale der Befragten (Alter, Geschlecht, Bildung, Religion) sind für alle Erhebungsjahre verfügbar, während Fragen zu politischen Einstellungen erst seit 1995 in grösserem Umfang und in vergleichbarer Form gemessen werden. Deshalb beschränkt sich die Untersuchung des sozialen und politischen Profils der Partei(un)gebundenen auf die Jahre 1995 und 2019.

Sinkende Parteibindungen über die Zeit

Abbildung 1 zeigt die Entwicklung der Parteibindungen in der Schweiz seit 1971. Der Anteil derjenigen, die sich keiner Partei nahe fühlen, ist in den letzten fünf Jahrzehnten gestiegen. Hat sich 1971 noch mehr als die Hälfte der Befragten mit einer bestimmten Partei identifiziert, waren es bei den letzten eidgenössischen Wahlen von 2019 nur noch rund 30 Prozent. Diese Entwicklung entspricht Beobachtungen in anderen westlichen Demokratien, für die längere Zeitreihen vorliegen: Der Anteil Parteiungebundener liegt beim letzten Beobachtungszeitpunkt stets einiges höher als zu Beginn der Zeitreihe (Dalton, 2002; Dassonneville 2023; Schmitt & Holmberg, 1995). Allerdings verläuft die Entwicklung in den verschiedenen Ländern weder gleichförmig noch linear. So auch in der Schweiz: zwar stieg der Anteil Parteiungebundener bis 1999 stetig an, jedoch stabilisierte er sich seither auf hohem Niveau (bei rund 70 Prozent). Der Anteil Parteiungebundener fällt damit im internationalen Vergleich in der Schweiz hoch aus, ist aber vergleichbar mit den Niederlanden oder Deutschland (Dassonneville, 2023). Zudem ist die Schweiz Teil einer Gruppe von Ländern (zusammen mit Nordeuropa oder UK), in denen sich die Erosion der Parteibindungen in den 2000er Jahren nicht fortgesetzt hat (Rahat & Kenig, 2018).

Abbildung 1: Entwicklung der Parteibindungen von 1971 bis 2019 (in %)

Mit Ausnahme der SVP mussten alle Bundesratsparteien einen Rückgang der «psychologischen Parteimitgliedschaft» hinnehmen. Am stärksten betroffen ist die ehemalige CVP mit einem Rückgang um zwei Drittel (von 9 auf 3 Prozent), gefolgt von der SP mit einer Halbierung ihres Anteils an Parteigebunden (von 14 auf 7 Prozent). Umgekehrt verdoppelte sich der Anteil Personen, die sich mit der SVP identifizieren, zwischen 1999 bis 2019 parallel zum Aufstieg der SVP zur wählerstärksten Partei.

Der Wahlentscheid der Parteiungebundenen

Gemäss dem sozialpsychologischen Modell des Wahlverhaltens hat die Parteibindung eine hohe Voraussagekraft für den Wahlentscheid. Dies ist auch in der Schweiz der Fall. Bei den letzten Wahlen 2019 trafen Personen, die einer Partei zuneigen, ihren Wahlentscheid grossmehrheitlich in Einklang mit ihrer Parteibindung. Bei der FDP, CVP und SVP lag dieser Anteil bei 90 Prozent und mehr. Bei der SP lag er mit 83 Prozent etwas tiefer. Tatsächlich weisen SP-Sympathisierende generell eine geringere Loyalität auf; ihr Stimmentscheid weicht häufiger von ihrer langfristigen Parteibindung ab, oft zugunsten der Grünen. Dies liegt daran, dass diese beiden linken Parteien ein sehr ähnliches Wählersegment bedienen (Sciarini, 2010).

Interessanter ist das Wahlverhalten der Parteiungebundenen. Diese Personen sind politisch weniger integriert, was sich an ihrer geringeren Wahlbeteiligung zeigt. So liegt die Wahlteilnahme der Parteiungebundenen im Untersuchungszeitraum 1971-2019 bei rund einem Drittel. Ihre hohe Wahlabstinenz macht es für die Parteien schwierig, die Parteiungebundenen zu mobilisieren und für sich zu gewinnen. Aufgrund ihrer grossen Anzahl sind die Parteiungebundenen für die Parteien aber eine wichtige Zielgruppe. Abbildung 2 zeigt die Parteiwahl der Parteiungebundenen zwischen 1971 und 2019.

Abbildung 2: Parteiwahl der Parteiungebundenen (in %

Die Parteiwahl der Personen, die sich mit keiner Partei identifizieren, bildet die tatsächlichen Wahlergebnisse über den gesamten Zeitraum insgesamt recht zuverlässig ab[2]. So lassen sich sowohl die anhaltenden Wählerverluste von FDP, CVP und SP, als auch der Aufstieg der SVP ab Mitte der 1990er Jahre gut ablesen. Allerdings fuhren die Nichtregierungsparteien im gesamten Zeitraum bei den Parteiungebundenen ein leicht überdurchschnittliches Ergebnis ein. Dies trifft insbesondere auf die Jahre 1987 und 1991 zu, als die vier Bundesratsparteien von verschiedenen kleinen Parteien auf der linken (z.B. Grüne, FGA) und rechten Seite (z.B. FPS, SD) herausgefordert wurden. 1991 sank der Wähleranteil der vier Bundesratsparteien erstmals in der Geschichte auf unter 70 Prozent – und bei den Parteiungebundenen schnitten sie gemäss unseren Zahlen noch deutlich schlechter ab. Seither widerspiegelt das Wahlverhalten der Parteiungebundenen die parteipolitischen Kräfteverhältnisse aber wieder genauer. Insbesondere FDP und CVP erzielten bei den Parteiungebundenen ziemlich genau ihren tatsächlichen Stimmenanteil, während die SP seit 1999 unterdurchschnittlich, die SVP hingegen überdurchschnittlich abschloss (2019: SP -3.2 Prozentpunkte, SVP +1 Prozentpunkt).

Soziales und politisches Profil der Parteiungebundenen

Welche sozialen und politischen Merkmale beeinflussen die Wahrscheinlichkeit, parteiungebunden zu sein? Wir beantworten diese Frage mithilfe eines Vergleichs der Jahre 1995 und 2019, weil viele politische Einstellungsfragen erst ab 1995 in vergleichbarer Form in den Nachwahlbefragungen gestellt wurden. Wir führen eine multivariate Analyse (binäre logistische Regression) durch, um zu testen, welche sozialen und politischen Merkmale die Zugehörigkeit zur Gruppe der Parteiungebundenen vorhersagen. Wir beschränken uns hier auf die Unterscheidung zwischen Parteiungebundenen und Personen mit Parteineigung (unabhängig davon, welcher Partei diese Personen zuneigen). Dies, weil Personen, die sich mit einer Partei identifizieren, relativ ähnliche Profile aufweisen wie die jeweiligen Parteiwählerschaften. Die Profile der Parteiwählerschaften, sowie ihre Veränderungen über die Zeit, sind in der Schweiz bereits gut erforscht (z.B. Bütikofer & Seitz, 2023; Freitag & Vatter, 2015; Häusermann et al., 2022; Kriesi et al., 2005).

Abbildung 3 illustriert den Einfluss von verschiedenen soziostrukturellen Merkmalen (Geschlecht, Alter, Religion, Bildungsgrad, Haushaltseinkommen) und politischen Merkmalen auf die Wahrscheinlichkeit, eine parteiungebundene Person zu sein. Dabei wurden für den zweidimensionalen politischen Raum der Schweiz (Kriesi et al., 2008) repräsentative Einstellungen gewählt: zwei Fragen auf der wirtschaftlichen Dimension (Erhöhung der Steuern auf hohen Einkommen, Erhöhung der Sozialausgaben), zwei auf der kulturellen Dimension (gleiche Chancen für Ausländer/innen, EU-Mitgliedschaft), sowie eine Frage zur Priorisierung von Umweltschutz oder Wirtschaftswachstum, welche zwischen den beiden Dimensionen liegt. Um die Effekte vergleichbar zu machen und die Interpretation zu erleichtern, wurden alle Variablen dichotomisiert, d.h. in zwei Gruppen unterteilt (z.B. vor/nach 1965 geboren). Bei den Einstellungsfragen sind jeweils Personen, die eine Aussage sehr oder eher befürworten, zusammengefasst und in der Abbildung ausgewiesen (und den Antwortkategorien «weder noch», «eher dagegen», «sehr dagegen», gegenübergestellt). Hinsichtlich der Religionszugehörigkeit wurde zwischen katholisch und protestantisch unterschieden; Konfessionslose und Anhänger/innen einer anderen Religion bilden die Referenzkategorie.[3]

Hinsichtlich des sozialen Profils unterscheiden sich Parteiungebundene von Personen mit einer Parteiidentifikation vornehmlich in Bezug auf ihr Alter, Geschlecht und Bildungsniveau (siehe auch Dassonneville et al., 2012 für Deutschland). Männer, ältere Generationen (d.h. vor 1965 geborene) und Personen mit Hochschulabschluss weisen eine geringere Wahrscheinlichkeit auf, zu den Parteiungebundenen zu gehören, als Frauen, jüngere und weniger gebildete Personen. Zudem spielen das Einkommen und die Religionszugehörigkeit eine Rolle, wenngleich eine geringere. Wer mehr verdient oder katholisch ist, neigt eher einer Partei zu als Personen mit geringerem Einkommen, Konfessionslose oder Mitglieder einer anderen Religion. Im Zeitvergleich nehmen diese Unterschiede tendenziell ab, bleiben aber insbesondere in Bezug auf die Geburtskohorte beträchtlich: während bei den Wahlen 1995 Baby Boomer und zuvor Geborene eine um rund 17 Prozentpunkte tiefere Wahrscheinlichkeit hatten, parteiungebunden zu sein als nachfolgende Generationen, betrug dieser Unterschied bei den Wahlen 2019 noch 11 Prozentpunkte. 2019 zeigt sich ausserdem der Einfluss der Religionszugehörigkeit nicht nur für die Katholikinnen und Katholiken, sondern auch für Protestantinnen und Protestanten. Wer Mitglied einer Landeskirche ist, identifiziert sich eher mit einer politischen Partei (und ist folglich politisch besser integriert, d.h. weniger häufig parteiungebunden).[4]

Abbildung 3: Soziale und politische Faktoren zur Erklärung, parteiungebunden zu sein (marginale Effekte)

Parteiungebundene heben sich auch hinsichtlich ihrer politischen Einstellungen von Personen ab, die einer Partei nahestehen. In beiden Untersuchungsjahren zeichnen sich die Parteiungebundenen durch ihre EU-skeptische Haltung aus. Bei den Wahlen 2019 hatten die Befürworter/innen eines EU-Beitritts eine um rund 10 Prozentpunkte geringere Wahrscheinlichkeit, zu den Parteiungebundenen zu zählen, als die Gegner/innen einer EU-Mitgliedschaft der Schweiz. In jüngster Zeit trennen die Parteiungebundenen auch wirtschaftspolitische Präferenzen von Personen mit einer Parteineigung. Bei den Wahlen 2019 hatten Parteiungebundene eine geringere Wahrscheinlichkeit, für die Erhöhung der Sozialausgaben einzustehen als Personen, die sich einer Partei nahe fühlen. Einstellungen zu Steuererhöhungen für hohe Einkommen, zu gleichen Chancen für Ausländer/innen oder zum Umweltschutz vermögen Parteiungebundene jedoch nicht von Personen mit einer Parteineigung zu unterscheiden.

Schlussfolgerungen

Der Anteil Personen, die sich keiner Partei nahe fühlen, hat in der Schweiz seit den 1970er Jahren zugenommen. Seit Ende der 1990er Jahre hat er sich auf einem im internationalen Vergleich hohen Niveau stabilisiert. Ausser der SVP sind alle Parteien von der Lockerung der Parteibindungen betroffen.

Diese Entwicklung hat politische Folgen. Einerseits zeichnen sich Parteiungebundene durch ein tieferes politisches Interesse aus und beteiligen sich weniger oft an eidgenössischen Wahlen. Sie sind damit für die politischen Parteien schwieriger zu mobilisieren. Gleichzeitig sind die Parteiungebundenen eine grosse Gruppe, sodass es andererseits für die Parteien wichtig ist, diese ungebundenen Wählerinnen und Wähler zu gewinnen, um ihre Wähleranteile zumindest zu halten. Neben den Nichtregierungsparteien ist das seit Mitte der 1990er Jahre der SVP am besten gelungen. Demgegenüber erzielt die SP bei den Parteiungebundenen unterdurchschnittliche Wahlergebnisse. Zwar entspricht die durchschnittliche Parteiungebundene – weiblich, jünger, konfessionslos – nur bedingt dem sozialen Profil des typischen SVP-Wählers (männlich, älter, protestantisch), doch hinsichtlich ihrer sozioökonomischen Merkmale (ohne Hochschulabschluss, tiefes bis mittleres Einkommen) und politischen Einstellungen (gegen EU-Beitritt, gegen Erhöhung der Sozialausgaben) gibt es klare Überschneidungen zwischen den Parteiungebundenen und der SVP-Wählerschaft. Somit präsentiert sich für die SVP die Ausgangslage im Kampf um die Stimmen der wachsenden Zahl von Parteiungebundenen vor den eidgenössischen Wahlen 2023 am aussichtsreichsten. Mit klaren Forderungen zum Wohle von Frauen und jüngeren Generationen könnten aber auch die anderen Parteien unter den Parteiunabhängigen punkten.

  1. Zwischen 1979 und 1991 wurden die Befragten direkt danach gefragt, welcher Partei sie nahestehen.
  2. Dies trifft aufgrund der höheren Fallzahlen v.a. seit Einführung der Wahlstudie Selects 1995 zu.
  3. Das Regressionsmodell wurde in zwei Schritten geschätzt: zunächst nur mit den sozialen Merkmalen, danach inklusive der politischen Merkmale. Der Einfluss der sozialen Merkmale bleibt im vollständigen Modell in beiden Jahren praktisch unverändert.
  4. Kontrolliert man für das politische Interesse, spielt das Einkommen in beiden Jahren keine Rolle mehr. Das Geschlecht, die Bildung und der Protestantismus verlieren bei den Wahlen 2019 ebenfalls ihren Einfluss.

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