Von der Schule ins Erwachsenenleben: Ausbildungs- und Erwerbsverläufe in der Schweiz

N°13, April 2018
Thomas Meyer (Universität Bern),

April 17, 2018
How to cite this article:

T. Meyer (2018). Von der Schule ins Erwachsenenleben: Ausbildungs- und Erwerbsverläufe in der Schweiz. Social Change in Switzerland, N° 13. doi:10.22019/SC-2018-00002

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Zusammenfassung

Wie und mit welchem Ergebnis durchlaufen Jugendliche in der Schweiz nachobligatorische Ausbildungen, und wie sind sie im Alter von 30 Jahren auf dem Arbeitsmarkt positioniert? Welche Faktoren sind für eine erfolgreiche Ausbildungs- und Erwerbslaufbahn von Bedeutung? Die Schweizer Längsschnittstudie TREE (Transitionen von der Erstausbildung ins Erwerbsleben) bietet die einzigartige Möglichkeit, Ausbildungs- und Erwerbsverläufe nach Ende der Schulpflicht über einen Zeitraum von mittlerweile fast anderthalb Jahrzehnten längsschnittlich zu beobachten. Unsere Analysen verdeutlichen zunächst, in welchem Ausmass sich die Übergänge zwischen Ausbildung und Erwerbstätigkeit heute bis weit ins dritte Lebensjahrzehnt erstrecken. Was die erworbenen Bildungsabschlüsse angeht, so verlässt knapp die Hälfte der beobachteten Kohorte das Ausbildungssystem mit einem Abschluss der beruflichen Grundbildung. Rund 40 Prozent erwerben einen Abschluss auf Tertiärstufe (Hochschulen und höhere Berufsbildung). Zehn Prozent der Kohorte bleiben ohne nachobligatorischen Ausbildungsabschluss. Die Arbeitsmarktsituation im Alter von 30 Jahren ist insgesamt überwiegend günstig: die Quote der Erwerbstätigkeit ist hoch, die Erwerbslosigkeit tief, und das Einkommen liegt durchschnittlich bei fast 6'000 Franken pro Monat.


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Einleitung

In modernen, wissensbasierten Gesellschaften ist nachobligatorische Bildung zu einer Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe und insbesondere für einen erfolgreichen Einstieg in den Arbeitsmarkt geworden. Szenarien des Bundesamtes für Statistik zur Entwicklung des Bildungsstandes der Bevölkerung rechnen damit, dass in den nächsten Jahrzehnten die Hälfte der erwachsenen Wohnbevölkerung über einen Abschluss auf Tertiärstufe (Universitäre, Pädagogische und Fachhochschulen sowie höhere Berufsbildung) verfügen wird (BFS, 2015). Während ein Abschluss der Sekundarstufe II (Lehrabschluss, Maturitätszeugnis u. ä.) zur gesellschaftlichen Norm geworden ist, setzen immer mehr junge Menschen in der Schweiz ihre Ausbildungslaufbahn auf Tertiärstufe fort.

Der Anteil der Erwerbsbevölkerung in der Schweiz, der über einen Bildungsabschluss auf Tertiärstufe verfügt, hat sich innerhalb von nur rund 20 Jahren von 20 auf 40 Prozent verdoppelt. Der Anteil der Erwerbspersonen ohne nachobligatorischen Ausbildungsabschluss ist dagegen von knapp 20 Prozent Ende der 1990er Jahre auf rund 10 Prozent gesunken[1].

Verschiedene Studien zeigen, dass das Schweizer Bildungssystem weit davon entfernt ist, die Nachfrage nach hoch qualifizierten Arbeitskräften im eigenen Land decken zu können (Meyer, 2016; Schellenbauer et al., 2010; SECO et al., 2015). Insbesondere seit Inkrafttreten der Freizügigkeitsabkommen mit der Europäischen Union anfangs der Nullerjahre ist die ungedeckte Nachfrage nach auf Tertiärstufe qualifizierten Arbeitskräften auf dem Schweizer Arbeitsmarkt deutlich sichtbar geworden.

Am unteren Ende des Qualifikationsspektrums ist eine deutliche Erhöhung des Risikos der Arbeitsmarktexklusion für diejenigen rund zehn Prozent zu beobachten, welche heute das Bildungssystem ohne nachobligatorischen Abschluss verlassen. Die Erwerbsquote dieser Gruppe ist laut der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (SAKE) markant tiefer als diejenige der Beschäftigten, die mindestens einen Abschluss der Sekundarstufe II erworben haben. Umgekehrt ist ihr Risiko, arbeitslos zu werden, zwei bis drei Mal höher[2]. Die Ausschlussrisiken von mangelnder Bildung beschränken sich nicht auf den formalen Arbeitsmarkt. Es ist vielfach belegt, dass Bildung auch in engem Zusammenhang steht mit politischer und kultureller Beteiligung, Gesundheit, sozialer Integration oder Devianz (Bacher et al. 2010; Fend et al. 2009; SKBF, 2014).

Es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass Bildungsarmut in der Schweiz weitgehend irreversibel, nachhaltig und hochgradig sozial vererbt ist (Bauer & Riphahn, 2007; Falcon, 2016). Wer einen Lehrabschluss oder ein Maturitätszeugnis nicht im Jugend- oder sehr jungen Erwachsenenalter erwirbt, wird dies mit hoher Wahrscheinlichkeit auch später nicht tun (Schräder-Naef, 1997; Schräder-Naef & Jörg-Fromm, 2005). Ähnliches gilt für Weiterbildungsaktivitäten im Erwachsenenalter (BFS, 2013).

Vor diesem Hintergrund bietet die Schweizer Längsschnittstudie TREE (Transitionen von der Erstausbildung ins Erwerbsleben) die einzigartige Möglichkeit, Ausbildungs- und Erwerbsverläu­fe nach Ende der Schulpflicht über einen Zeitraum von mittlerweile fast anderthalb Jahrzehnten längsschnittlich zu beobachten und zu analysieren. In diesem Beitrag werden folgende Fragen vertieft untersucht: Wie und mit welchem Ergebnis durchlaufen Jugendliche nachobligatorische Ausbildungen, und welche Faktoren sind für eine erfolgreiche Ausbildungslaufbahn von Bedeutung? Wie ist die TREE-Kohorte im Alter von 30 Jahren auf dem Arbeitsmarkt positioniert, und in welchem Zusammenhang stehen dabei die erworbenen Bildungsabschlüsse und ihre Situation auf dem Arbeitsmarkt? 

Daten und Methode

Die Datengrundlage des vorliegenden Beitrags bildet die TREE-Studie, eine gesamtschweizeri­sche Kohortenuntersuchung zum Übergang Jugendlicher von der Schule ins Erwachsenenleben. Im Zentrum der Studie stehen die Ausbildungs- und Erwerbsverläufe nach dem Austritt aus der obligatorischen Schule. Die erste Kohorte (TREE1), auf deren Daten die präsentierten Ergebnis­se fussen, umfasst über 6000 Jugendliche, die im Jahr 2000 im Alter von 15-16 Jahren an der PISA-Studie (Programme for International Student Assessment) teilnahmen und im selben Jahr aus der Schulpflicht entlassen wurden (TREE, 2016a). Die Stichprobe ist auf nationaler und sprachregionaler Ebene repräsentativ für rund 80‘000 Jugendliche in der Schweiz. Die Teilneh­merInnen wurden zwischen 2001 und 2014 insgesamt neun Mal nachbefragt. Zum Zeitpunkt der letzten Befragung (2014) waren sie durchschnittlich 30 Jahre alt, und die Rücklaufquote lag bei rund 50 Prozent.

Die in diesem Beitrag präsentierten Resultate basieren hauptsächlich auf den Daten der neunten und bislang letzten Nachbefragungswelle von 2014. Die methodischen Details dazu sind in Scharenberg et al (2014) sowie Gomensoro et al. (2017) ausführlich beschrieben.

Ausbildungs- und Erwerbsverläufe 2000-2014

Abbildung 1 visualisiert die Ausbildungs- und Erwerbsverläufe der Jugendlichen, die ihre Schulpflicht im Jahr 2000 erfüllt haben. Vertikal sind die neun Beobachtungszeitpunkte des TREE-Längsschnitts von 2001 bis 2014 aufgetragen. Der stilisierte Baum hat der Längsschnittstudie nicht nur seinen (englischen) Namen geliehen. Er macht auch einige Besonderheiten des schweizerischen Bildungssystems sichtbar:

  • Ins Auge fällt im unteren Teil der Abbildung die hohe Bedeutung der Berufsbildung, die zeitweise von rund zwei Dritteln der Kohorte durchlaufen wird (hellgrüne Balken, 2002 und 2003);
  • Umgekehrt proportional dazu fällt der im internationalen Vergleich geringe Prozentsatz von Jugendlichen auf, die nach Erfüllung der Schulpflicht eine allgemeinbildende Schule besuchen (Gymnasium, Fachmittelschule o.ä.; dunkelgrüne Balken, ca. ein Viertel);
  • Augenfällig ist auch der erhebliche Anteil junger Menschen in der Schweiz, die keinen direkten Zugang zu einer nachobligatorischen Ausbildung finden und zunächst eine Zwischenlösung, ein “Brückenjahr” oder gar deren zwei absolvieren (rot getönte Balken unten links, 2001 ca. ein Fünftel);
  • In der Vertikale wird offenbar, wie lange sich die Berufsbildung für einen Teil der Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen hinzieht: Zwischen 2005 und 2007, also fünf bis sieben Jahre nach Erfüllung der Schulpflicht, befinden sich immer noch zwischen 8 und 18 Prozent der beobachteten Kohorte in einer beruflichen Grundbildung. Dies ist zum einen durch die oben erwähnten Zwischenlösungen bedingt, die den Einstieg in die Berufsbildung verzögern. Zum anderen verzögern sich die Berufsbildungsabschlüsse durch Lehrvertragsauflösungen, Unterbrüche, Repetitionen und Neuorientierungen.
  • Spiegelbildlich zum stark gestaffelten Verlauf der beruflichen Grundbildung verhält sich der Anteil der jungen Erwachsenen, welche ins Erwerbsleben einsteigen (graue Balken oben links): Das erste Viertel der beobachteten Kohorte ist bereits 2004 auf dem Arbeitsmarkt anzutreffen. Fast zehn Jahre später, 2014, sind es dann gut drei Viertel;
  • Schliesslich ist der im Ländervergleich relativ geringe Anteil junger Menschen zu erwähnen, welche eine Ausbildung auf Tertiärstufe durchlaufen: er liegt zu allen beobachteten Zeitpunkten unter dreissig Prozent (violette Balken oben rechts).

2014, d.h. 14 Jahre nach ihrem Austritt aus der obligatorischen Schule und im Alter von durchschnittlich 30 Jahren, hat der grösste Teil der untersuchten TREE-Kohorte den Übergang von der Erstausbildung ins Erwerbsleben vollzogen. Immerhin noch rund ein Sechstel befindet sich zu diesem Zeitpunkt in Ausbildung, der grösste Teil davon auf Tertiärstufe. Fast 90 Prozent der Kohorte sind erwerbstätig, davon über drei Viertel ausschliesslich, d.h. ohne parallel dazu noch eine Ausbildung zu besuchen. Rund 7 Prozent der Kohorte sind weder erwerbstätig noch in Ausbildung.

Fig1_d

Fig2_d

Im Alter von 30 Jahren haben rund die Hälfte der TREE-Probandinnen und -Probanden als höchsten Bildungsabschluss einen Abschluss der Sekundarstufe II, zum allergrössten Teil eine abgeschlossene berufliche Grundbildung (vgl. Abb. 2). Lediglich knapp ein Viertel (23%) verfügt über einen Abschluss auf Tertiärstufe A, ein weiterer Sechstel (17%) einen auf Tertiärstufe B[3]. Ein Zehntel der Kohorte hat keinerlei nachobligatorischen Abschluss erworben. Die Abschlussquoten auf Tertiärstufe dürften sich in den kommenden Jahren noch um einige Prozentpunkte erhöhen[4].

Die Entwicklung zwischen 2007 und 2014 verdeutlicht, in welchem Ausmass sich die Übergänge zwischen Ausbildung und Erwerbstätigkeit bis weit ins dritte Lebensjahrzehnt erstrecken – und gar darüber hinaus. Die Verläufe in dieser Phase zeigen zudem, dass diese Übergänge durchaus in beide Richtungen erfolgen können – also sowohl von der Ausbildung in die Erwerbstätigkeit als auch umgekehrt: Erwartungsgemäss dominieren die Übergänge von der Ausbildung ins Erwerbsleben, und der Anteil der Erwerbstätigen steigt von einem Beobachtungszeitpunkt zum nächsten kontinuierlich an. Dies manifestiert sich in Abbildung 1 in den “Ästen”, die diagonal Richtung oben links verlaufen. Die Abbildung zeigt jedoch auch “Äste” in entgegengesetzter Richtung (diagonal nach oben rechts): Diese symbolisieren junge Erwachsene, die nach einer Phase der Erwerbstätigkeit in die Ausbildung zurückkehren, zumeist in eine auf Tertiärstufe.

Welche Faktoren beeinflussen in der Schweiz den Bildungserfolg?

Die bisherigen TREE-Ergebnisse zeigen in aller Deutlichkeit: Die in der Schweiz vorherrschende, weitgehend irreversible Zuteilung der Schülerinnen und Schüler in getrennte Leistungszüge auf Sekundarstufe I[5] führt dazu, dass junge Menschen ihr Begabungspotenzial oft ungenügend ausschöpfen können – mit nachhaltigen Folgen für ihre nachobligatorischen Ausbildungslaufbahnen und den Einstieg ins Erwerbsleben (BFS/TREE, 2003; Gomensoro et al., 2017; Meyer, 2009; Scharenberg et al. 2014). Schülerinnen und Schüler, die auf Sekundarstufe I Schultypen mit “Grundanforderungen” (Realschul-Typus) durchlaufen haben, sind auch bei guter Leistung oft nicht in der Lage, ihr Potenzial auf Sekundarstufe II und darüber hinaus zu verwirklichen. Abbildung 3 zeigt deren Chancen, nach Erfüllung der Schulpflicht in eine anforderungsreiche nachobligatorische Ausbildung eintreten zu können. Als standardisiertes Leistungsmass wird die PISA-Lesekompetenz beigezogen. Im Vergleich zu ihren Altersgenossinnen und –genossen, die Schultypen mit “erweiterten Anforderungen” besucht haben (z.B. Sekundarschule, Bezirksschule, Progymnasium), sind ihre Aussichten auf eine anforderungsreiche nachobligatorische Ausbildung massiv vermindert: Bei vergleichbaren Lesekompetenzen sind die Chancen in der Gruppe mit geringer Lesekompetenz viermal kleiner (7 vs. 27%), in der Gruppe mit hoher Lesekompetenz rund zweimal kleiner (49 vs. 82%).

Fig3_d

Auf allen Stufen des schweizerischen Bildungssystems bestimmen darüber hinaus Herkunftsmerkmale wie das Geschlecht, der elterliche Bildungs- und Sozialstatus oder der Migrationshintergrund, aber auch die Sprachregion oder der Urbanisierungsgrad den Bildungserfolg in erheblichem Ausmass mit. Diese Befunde stehen in eklatantem Widerspruch zum Prinzip der Leistungsgerechtigkeit.

Die Übergänge in nachobligatorische Ausbildungen und die Ausbildungsverläufe auf Sekundarstufe II sind im sowohl horizontal als auch vertikal hoch segmentierten Bildungssystem der Schweiz stark von Diskontinuitäten, Brüchen, Neuorientierungen und Umwegen geprägt. Nur rund die Hälfte der beobachteten TREE-Kohorte tritt nach dem neunten Schuljahr direkt in eine (zertifizierende) Ausbildung der Sekundarstufe II ein und schliesst diese in der vorgesehenen Regelzeit ab (Keller et al. 2010). Dies wiederspiegelt sich auch in Abbildung 1, wo sich etwa 2005, also fünf Jahre nach Austritt aus der obligatorischen Schule, immer noch fast ein Viertel der Kohorte in einer Ausbildung auf Sekundarstufe II befinden. Zahlreiche TREE-Analysen zeigen, dass diskontinuierliche Ausbildungsverläufe, insbesondere beim Übergang zwischen den Sekundarstufen I und II, per se das Risiko von Bildungsmisserfolg erhöhen (vgl. etwa Scharenberg et al., 2014).

Arbeitsmarktsituation der TREE-Kohorte im Alter von 30 Jahren

Im Allgemeinen kann die Arbeitsmarktsituation der beobachteten TREE-Kohorte als günstig bezeichnet werden (Gomensoro et al., 2017). Im Alter von 30 Jahren ist die Quote der Erwerbstätigkeit global hoch, die Erwerbslosigkeit tief, und mit einem Durchschnittseinkommen von rund 6’500 Franken monatlich (brutto vollzeitäquivalent) hat die Kohorte bereits das durchschnittliche Lohn-Niveau aller Beschäftigten in der Schweiz erreicht[6].Rund 13 Prozent der Erwerbstätigen sind prekär beschäftigt, d.h. sie sind unterbeschäftigt, befristet angestellt oder leisten Arbeit auf Abruf.

Mit Blick auf die zentrale Thematik von TREE, den Übergang zwischen Ausbildung und Erwerbsleben, zeigt sich, dass Bildung sich lohnt – beziehungsweise dass das Fehlen eines nachobligatorischen Ausbildungsabschlusses mit erheblich erhöhten Risiken auf dem Arbeitsmarkt einhergeht. Die davon betroffene Gruppe von jungen Menschen (etwa 10% der beobachteten Kohorte) ist im Vergleich zu ihren besser ausgebildeten Altersgenossinnen und ‑genossen weniger häufig erwerbstätig und deutlich häufiger prekär beschäftigt.

Positiv gewendet: vier von fünf Personen ohne nachobligatorischen Ausbildungsabschluss im Alter von dreissig Jahren sind erwerbstätig und erzielen ein (vollzeitäquivalentes) Durchschnittseinkommen von deutlich über 5000 Franken monatlich. Die Längsschnittperspektive legt überdies nahe, dass sich ein erheblicher Teil dieser Gruppe auch über mehrere Jahre hinweg betrachtet auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten weiss (vgl. Abbildung 1).

Fig4_d

Bei den Absolventinnen und Absolventen einer Ausbildung auf Tertiärstufe springt neben der hohen Erwerbsbeteiligung vor allem der erhebliche Lohnvorteil ins Auge. Wer eine höhere Berufsbildung oder eine Hochschule abgeschlossen hat, verdient vollzeitäquivalent über 7000 Franken monatlich, während die Durchschnittslöhne der Personen ohne Tertiärabschluss unter 6000 Franken liegen (vergleiche Abbildung 4).

Welche Bilanz lässt sich für diejenigen ziehen, welche ihre Bildungslaufbahn mit einem Abschluss der beruflichen Grundbildung auf Sekundarstufe II beenden?[7] Im Vergleich zu den Personen ohne Abschluss zeichnen sich diese durch einen tieferen Anteil von prekär Beschäftigten aus. Bezüglich Durchschnittseinkommen und Erwerbsstatus unterscheiden sich die beiden Gruppen dagegen nicht signifikant voneinander. Dabei ist allerdings anzumerken, dass sowohl die Durchschnittslöhne als auch das Risiko, erwerbslos zu sein, je nach Beruf stark variieren. Insgesamt geben unsere Ergebnisse einige Hinweise darauf, dass eine abgeschlossene berufliche Grundbildung nicht (mehr) ohne weiteres als “Garant” für Arbeitsmarkterfolg wirkt. Vielmehr scheint sich diese “Schutzwirkung” auf Abschlüsse der Tertiärstufe verlagert zu haben. Ausserdem zeigen mehrere Analysen auf der Basis der TREE-Daten, dass die berufliche Mobilität der Lehrabsolventinnen und ‑absolventen im stark segmentierten schweizerischen Arbeitsmarkt gering und oft mit Lohn-einbussen verbunden ist (Buchs et al. 2015; Mueller & Schweri, 2015; Sacchi et al. 2016).

Ein weiterer bedeutsamer Befund unserer Analysen ist der “lange Schatten”, den weit(er) zurückliegende Übergänge im Bildungssystem auf die Arbeitsmarktsituation mit dreissig zu werfen scheinen. Gemäss multivariaten Analysen (Gomensoro et al., 2017) gehen insbesondere zwei frühe(re) Übergangsformen mit einem erhöhten Risiko einher, im Alter von dreissig Jahren aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden zu sein: zum einen der Besuch von Schultypen der Sekundarstufe I, welche sich auf so genannte Grundanforderungen[8]beschränken; zum anderen der Besuch eines Brückenangebots oder einer anderen Form von Zwischenlösung am Übergang zwischen den Sekundarstufen I und II.

Den mit Abstand bedeutsamsten Einfluss auf die Erwerbssituation mit dreissig hat jedoch das Geschlecht  – gekoppelt mit der Familiensituation. Die TREE-Befunde belegen deutlich, in welchem Ausmass sich Erwerbslaufbahnen von Männern und Frauen nach wie vor unterscheiden. Spätestens mit der Geburt von Kindern öffnet sich auch bei der TREE-Kohorte die vielfach belegte “Gender-Schere”: Während Männer mit Kindern fast ausnahmslos vollzeitlich erwerbstätig sind bzw. bleiben, scheiden rund ein Fünftel aller Frauen mit Kindern (zumindest vorübergehend) ganz aus dem Arbeitsmarkt aus (d.h. sind nichterwerbs­tätig). Drei Viertel der erwerbstätigen Mütter arbeiten in Teilzeitpensen, in fast der Hälfte der Fälle mit einem Beschäftigungsgrad unter 50 Prozent (vergleiche auch Giudici und Schumacher 2017).

Darüber hinaus zeigen die TREE-Befunde, dass Frauen signifikant weniger verdienen als Männer. Die Lohnschere zwischen Männern und Frauen liegt in der TREE-Kohorte im Alter von dreissig Jahren bei 800 Franken monatlich (brutto vollzeitäquivalent), bei den effektiven Einkommen sind es mit rund 1500 Franken fast doppelt so viel (vergleiche auch Abbildung 4). Auch wenn weiterführende Analysen zum “unerklärten”[9]Lohnunterschied im Alter von 30 Jahren noch ausstehen: Schon frühere, auf TREE-Daten basierende Studien stellten fest, dass Frauen bereits beim Erwerbseinstieg von Lohndiskriminierung betroffen sind (Bertschy et al. 2014).

Fazit und Ausblick

Unsere Ergebnisse verdeutlichen zunächst, in welchem Ausmass sich die Übergänge zwischen Ausbildung und Erwerbstätigkeit heute bis weit ins dritte Lebensjahrzehnt erstrecken – und gar darüber hinaus. Dies ist zum einen dem hohen Ausmass an Diskontinuitäten, Neuorientierungen, Brüchen und Zwischenjahren geschuldet, die die nachobligatorischen Ausbildungsverläufe vieler Jugendlicher in der Schweiz prägen. Zum anderen setzen heute rund vier von zehn Jugendlichen beziehungsweise jungen Erwachsenen ihre Ausbildungslaufbahn auf Tertiärstufe fort, oft nicht direkt nach ihrem Abschluss auf Sekundarstufe II, sondern nach einer kürzeren oder längeren Phase der Erwerbstätigkeit.

Knapp die Hälfte der beobachteten Kohorte verlässt das Ausbildungssystem mit einem Abschluss der beruflichen Grundbildung. Rund ein Viertel erwirbt einen Abschluss auf Tertiärstufe A (Pädagogische, Fach- oder universitäre Hochschule), ein weiteres Sechstel einen Abschluss der Tertiärstufe B (höhere Berufsbildung). Zehn Prozent der Kohorte bleiben ohne nachobligatorischen Ausbildungsabschluss.

Zahlreiche TREE-Analysen zu den entscheidenden Faktoren des Ausbildungserfolgs unterstreichen, welch starke Rolle neben den schulischen Leistungen Herkunftsmerkmale wie das Geschlecht, der elterliche Sozialstatus, der Migrationshintergrund, aber auch die Sprachregion oder der Urbanisierungsgrad spielen. Dies ist mit Blick auf die Chancengerechtigkeit des schweizerischen Bildungssystems hoch bedeutsam. Das “meritokratische Prinzip”, wonach für den (Bildungs‑)Erfolg in allererster Linie die Leistung zu zählen hat, wird im Bildungswesen der Schweiz systematisch und in starkem Ausmass verletzt.

Was die Arbeitsmarktsituation im Alter von 30 Jahren angeht, ist diese insgesamt überwiegend günstig: die Quote der Erwerbstätigkeit hoch, die Erwerbslosigkeit tief, und mit einem Medianeinkommen von über 6000 Franken monatlich (brutto vollzeitäquivalent) hat die Kohorte bereits am Ende ihres drittens Lebensjahrzehnts das durchschnittliche Lohn-Niveau aller Beschäftigten in der Schweiz erreicht. Junge Erwachsene ohne nachobligatorischen Bildungsabschluss zeichnen sich durch ein markant erhöhtes Risiko aus, prekär beschäftigt zu sein. Wer im Vergleich zu dieser Gruppe über einen Abschluss der beruflichen Grundbildung verfügt, ist deutlich seltener prekär beschäftigt. Mit Blick auf Durchschnittseinkommen und Erwerbsstatus unterscheiden sich die beiden Gruppen dagegen nicht signifikant voneinander.

Bei den Absolventinnen und Absolventen einer Ausbildung auf Tertiärstufe springt neben der hohen Erwerbsbeteiligung vor allem der erhebliche Lohnvorteil gegenüber denjenigen ohne Tertiärabschluss ins Auge: dieser liegt bei durchschnittlich über 1000 Franken monatlich (brutto vollzeitäquivalent). Insgesamt deuten die TREE-Ergebnisse darauf hin, dass der schweizerische Arbeitsmarkt zwar Neueinsteigerinnen und Neueinsteiger auf allen Qualifikationsstufen gut bis sehr gut aufnimmt. Besonders gross – und entsprechend vorteilhaft entlohnt – ist aber die Nachfrage nach hoch gebildeten Arbeitskräften. Dies wird auch dadurch unterstrichen, dass seit der Jahrtausendwende jährlich mehrere zehntausend Menschen aus dem Ausland in die Schweiz eingewandert sind, um hier zu arbeiten. Die Hälfte von ihnen verfügt über einen Ausbildungsabschluss auf Tertiärstufe (vgl. SECO et al. 2015) Eine erhöhte Durchlässigkeit des schweizerischen Bildungssystems – vor allem Richtung Tertiärstufe – wäre vor diesem Hintergrund nicht nur aus Gründen der Chancengerechtigkeit opportun. Angesichts der markanten “Tertiarisierungslücke” auf dem schweizerischen Arbeitsmarkt würde sie auch dazu beitragen, dass die Binnenversorgung mit höher qualifizierten Bildungsabgängerinnen und ‑abgängern verbessert würde.

 

[1] Vgl. die laufend online aktualisierten Ausbildungs- und Arbeitsmarktindikatoren des Bundesamtes für Statistik
www.bfs.admin.ch , abgerufen am 10.1.2018.

[2] Vgl. ebenda.

[3]Zur Tertiärstufe A gehören die Universitären, Pädagogischen und Fachhochschulen. Die Tertiärstufe B umfasst die so genannte höhere Berufsbildung mit den höheren Fachschulen, Fach- und Meisterprüfungen.

[4]Zum einen befanden sich 2014 rund sieben Prozent der beobachteten Schulabgänger-Kohorte in Tertiärausbildungen, welche (noch) keinen Tertiärabschluss haben. Zum anderen dürfte ein (kleiner) Teil derjenigen, die 2014 einen Abschluss auf Sekundarstufe II aufwiesen, noch eine Ausbildung auf Tertiärstufe aufnehmen (und abschliessen).

[5]Je nach Kanton Sekundar-, Real- oder Bezirksschule, Sek A, B und C, verschiedene Programme des cycles d’orientation in der Westschweiz.

[6]www.bfs.admin.ch, Bereich Arbeit und Erwerb, Unterbereich Löhne, und Erwerbseinkommen.

[7]Grossmehrheitlich mit einer Berufslehre (d. h. einem Eidg. Fähigkeitszeugnis, EFZ).

[8] Je nach Kanton z.B. Realschule, Sek C oder cycle d’orientation du type “pratique”.

[9]D.h. demjenigen Anteil des Lohnunterschieds, der nicht durch Unterschiede bezüglich Qualifikationsmerkmalen, Anforderungen, hierarchischer Position, Anciennität, Branchenzugehörigkeit und weiterer Merkmale erklärt werden kann.

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