Working Poor in der Schweiz: Ausmass und Mechanismen

N°15, September 2018
Eric Crettaz (Fachhochschule Westschweiz (HES-SO), Hochschule für Soziale Arbeit, Genf) ,

September 11, 2018
How to cite this article:

E. Crettaz (2018). Working Poor in der Schweiz: Ausmass und Mechanismen. Social Change in Switzerland, N° 15. doi:10.22019/SC-2018-00006

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Zusammenfassung

In der Vergangenheit wurde das Phänomen der Working Poor – der Erwerbsarmut – weitaus seltener untersucht als andere sozioökonomische Schwierigkeiten von Personen im erwerbsfähigen Alter, wie beispielsweise Arbeitslosigkeit. Diese Frage ist jedoch von zentraler Bedeutung, da die Sozialpolitik ihren Schwerpunkt verstärkt auf die Rückkehr in den Arbeitsmarkt legt. Der vorliegende Beitrag analysiert das Ausmass der Erwerbsarmut im Jahr 2015 und zeigt auf, warum in der Schweiz erwerbstätige Personen in Haushalten mit geringem Einkommen und/oder in Haushalten leben, die von materieller Entbehrung betroffen sind. Ein wichtiger Faktor dabei ist sicherlich der Lohn. Ebenso stark wirken sich aber auch ein unterdurchschnittliches Arbeitsvolumen oder ein überdurchschnittlich hoher Bedarf bestimmter Haushalte aus. Das Armutsrisiko von Erwerbstätigen hängt insbesondere davon ab, ob sie Kinder haben oder geschieden sind. Entlastend wirken Sozialtransfers, welche die Anzahl armutsbetroffener Erwerbstätiger halbieren.


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Einleitung

Seit mehreren Jahren vollzieht sich ein Wandel in der Sozialpolitik, der den Schwerpunkt zunehmend auf Aktivierungsmassnahmen und die Rückkehr an den Arbeitsplatz von Personen legt, die arbeitslos sind oder anderweitig nicht am Arbeitsmarkt teilnehmen. Es ist daher von Bedeutung nachzuvollziehen, inwiefern die Erwerbsbevölkerung in unserem Land vor Armut geschützt ist und welche Gruppen von Erwerbstätigen einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt sind.

Ziel dieses Beitrags ist es, Antworten auf folgende Fragen zu geben: Worauf bezieht man sich, wenn von Erwerbsarmut („Working Poor“) in der Schweiz gesprochen wird, und wie kann dieses Phänomen gemessen werden? Welche Personengruppen sind am stärksten betroffen und welche Mechanismen haben dazu geführt, dass sie sich in dieser Situation befinden? Die Armut von Erwerbstätigen unterscheidet sich von der Armut nicht-erwerbstätiger Personen, weil sie verschiedene Herausforderungen an die Sozialpolitik stellen. Zudem wird dieses Thema wesentlich weniger von den europäischen Sozialwissenschaften behandelt als andere vergleichbare soziale Problematiken (Lohmann und Marx 2018), wie beispielsweise Arbeitslosigkeit oder Inaktivität von Personen im Erwerbsalter.

In der Schweiz wurden erste Arbeiten zum Thema „Working Poor“ Ende der 1990er Jahre durchgeführt (Liechti und Knöpfel 1998, Fluder und al. 1999). Dabei konzentrierten sich die Untersuchungen vornehmlich auf Haushalte, in denen das Gesamtarbeitsvolumen mindestens einer Vollzeitbeschäftigung entsprach. Gemäss dieser Studien belief sich die Anzahl der Working Poor Ende der 1990er Jahre auf 250’000 Personen, wenn sich die Armutsgrenze an den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) orientierte, und auf 410’000 Personen unter Anwendung der Armutsgrenze gemäss den Ergänzungsleistungen zur AHV (Liechti und Knöpfel 1998). In seinem ersten Bericht verwendet das Bundesamt für Statistik (BFS) einen Indikator, der sehr nahe an der von Liechti und Knöpfel (1998) verwendeten Kennzahl liegt. Demgemäss wird die Anzahl der Working Poor 1999 auf 250’000 Personen geschätzt, von denen 186’000 in einem Haushalt mit mindestens einer Vollzeitbeschäftigung leben (Streuli und Bauer 2001). Eine vergleichbare Zahl von 284’000 armutsbetroffenen Erwerbstätigen wird von Gerfin und al. (2002) eruiert. Unter Berücksichtigung der Anzahl ArbeitnehmerInnen, deren jährliches Nettosalär 50 % unter dem Medianeinkommen liegt und mehr als die Hälfte des Jahreseinkommens des Haushalts darstellt, schätzen Deutsch, Flückiger und Silber (1999) die armutsbetroffenen Erwerbstätigen auf 228’000 im Jahr 1997.

Dabei handelt es sich häufig um die gleichen Personengruppen: Personen, die gering qualifiziert sind, in einem Einelternhaushalt leben oder als Paar mit drei Kindern und mehr leben, die eine ausländische Staatsangehörigkeit haben, in Sektoren mit geringer Produktivität oder Niedriglöhnen beschäftigt sind, die atypische Beschäftigungsbedingungen haben (zeitlich begrenzt, auf Abruf usw.) oder selbstständig erwerbend sind (insbesondere Selbstständige ohne Angestellte).

Einige Autoren beschäftigen sich insbesondere mit dem Zusammenhang zwischen den Phänomenen der Tieflohnarbeit und Erwerbsarmut (Oesch und Rieger 2006, Falter und Flückiger 2004, Crettaz und Farine 2008), wobei sich diese Phänomene nicht vollständig überschneiden, da die Einkommen innerhalb desselben Haushalts in der Regel geteilt werden. Durch die Festlegung der Niedriglohnschwelle auf 50 % des jährlichen Nettoerwerbseinkommens und unter Verwendung einer Armutsgrenze, die der zu dieser Zeit geltenden Armutsschwelle des BFS entsprach (Streuli und Bauer 2001), kommen Flückiger und Falter (2004) zu dem Schluss, dass 13,3 % der ArbeitnehmerInnen mit tiefen Einkommen „Working Poor“ sind und dass 42,9 % der Erwerbstätigen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, einen Niedriglohn beziehen. Crettaz und Farine (2008) kommen zu sehr ähnlichen Ergebnissen.

Andere Analysen beschäftigten sich vornehmlich mit Sozialhilfeempfängern, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen (Kutzner und al. 2004): Der Anteil von armutsbetroffenen Erwerbstätigen, welcher sämtliche Personen umfasst, die mindestens eine Stunde pro Woche erwerbstätig sind, belief sich in den Jahren 2000/2001 auf 18,5 % der Sozialhilfeempfänger im Kanton Freiburg und auf 18,2 % jener im Kanton Basel-Stadt. Weitere Studien ermöglichen ein besseres Verständnis dafür, welche Auswirkungen mit dem Status des „Working Poor“ in der Schweiz verbunden sind, insbesondere für Personen, die an Aktivierungsprogrammen teilnehmen (Kuehni 2018).

Die Entwicklung der Anzahl armutsbetroffener Erwerbstätiger kann aufgrund von Brüchen in den Zeitreihen des BFS nur schwer nachvollzogen werden. Es kann jedoch aufgezeigt werden, dass der prozentuale Anteil der „Working Poor“ seit der Rezession in der ersten Hälfte der 1990er Jahre deutlich angestiegen ist (Streuli und Bauer 2001). Anfang der Nullerjahre folgte dann ein rückläufiger Trend, der bis zur Mitte des gleichen Jahrzehnts wieder aufwärts tendierte (Crettaz und Farine 2008). Aufgrund einer neuen Operationalisierung der SKOS-Richtlinien und einer neuen, zuverlässigeren Datenbasis zur Einkommensmessung (die im Folgenden beschriebene SILC-Erhebung) lassen sich folgende Schlüsse ziehen: Seit 2007 ist die Armutsquote der Erwerbstätigen bis zum Jahr 2013 zurückgegangen. Einem erneuten Bruch in der Zeitreihe folgte 2014 ein Anstieg bis ins Jahr 2016 (Quelle: BFS).

Daten und Kennzahlen

Die Ergebnisse unseres Artikels beruhen auf der vom Bundesamt für Statistik, aber auch in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union durchgeführten Erhebung zu Einkommen und Lebensbedingungen SILC (Survey on Income and Living Conditions), die sich auf Informationen von 14’262 in der Schweiz lebenden Personen stützt. In der Forschung zu den Working Poor gilt diese Erhebung als vorrangige Referenz (Lohmann und Marx 2018).

Der Indikator, der in der europäischen Fachliteratur zu den „Working Poor“ vornehmlich herangezogen wird, ist die auf 60 % des Medianäquivalenzeinkommens festgelegte Armutsgrenze. Dazu werden die Einkommen aller Haushaltsmitglieder (Erwerbseinkommen, Sozialtransfers, Vermögenseinkommen usw.) addiert und die Sozialabgaben (AHV, IV, EO usw.) sowie Steuern und Krankenkassenbeiträge in Abzug gebracht. In einem weiteren Schritt wird dieses Einkommen standardisiert, um einen Vergleich zwischen Haushalten von unterschiedlicher Grösse anstellen zu können.

Ein Working Poor ist eine Person, die einer Erwerbstätigkeit nachgeht und in einem einkommens­schwachen Haushalt lebt. Entgegen den offiziellen Statistiken, denen zufolge eine Person im vergangenen Jahr mindestens sechs Monate gearbeitet haben muss, um als erwerbstätig erachtet zu werden (was in den Arbeitsmarkt eintretende oder zurückkehrende Personen ausschliesst), beschäftigt sich dieser Artikel mit allen Personen, die zum Zeitpunkt der Befragung erwerbstätig sind und mindestens das 20. Lebensjahr erreicht haben.

Der vorliegende Artikel verwendet zudem einen Indikator zur materiellen Entbehrung, der zuverlässigere Untersuchungen für Erwerbstätige ermöglicht, deren Einkommen schwierig zu bemessen ist (in der Regel Selbstständigerwerbende). Dieser Indikator findet in der wissenschaftlichen Forschung seltener Verwendung, führt jedoch zu interessanten Ergebnissen (Crettaz 2015). Es werden neun Fragen gestellt, ob die Antwortenden über folgende Möglichkeiten verfügen beziehungsweise finanziell dazu in der Lage wären:

  • innerhalb eines Monats unerwartete Ausgaben in Höhe von 2’500 Franken zu tätigen
  • sich jedes Jahr eine Woche Ferien ausserhalb des Wohnsitzes zu leisten
  • Zahlungsrückstände zu vermeiden
  • sich alle zwei Tage eine Mahlzeit mit Fleisch oder Fisch (oder eine vergleichbare vegetarische Mahlzeit) zu leisten
  • ihre Wohnung angemessen zu heizen
  • eine Waschmaschine
  • ein Farbfernsehgerät
  • ein Telefon
  • ein Auto

 

Falls ein Haushalt nicht über eine dieser Möglichkeiten verfügt, wird der Antwortende gebeten anzugeben, ob dies auf finanzielle oder andere Gründe zurückzuführen ist. Von materieller Entbehrung wird gesprochen, wenn mindestens drei der neun erhobenen Indikatoren aus finanziellen Gründen fehlen.

Die Quote der Erwerbsarmut fällt unterschiedlich aus, je nachdem, welcher Indikator angewendet wurde. Grund dafür ist, dass sich die Indikatoren für die materielle Entbehrung auf ausgeprägtere Formen von Entbehrung beziehen (Crettaz 2015): Bei einer in der Schweiz lebenden Person, die auf drei der vorstehend aufgeführten Möglichkeiten verzichten muss, wird davon ausgegangen, dass sie sich langfristig in einer schwierigen finanziellen Lage befindet. Demzufolge sind 3,1 % der erwerbstätigen Personen von materieller Entbehrung betroffen, wobei dieser Anteil deutlich unter dem der Einkommensarmut (8,6 %) liegt.

Die in der Schweiz von Erwerbsarmut betroffenen Personen

Wir wollen zunächst die soziodemografischen Profile identifizieren, die durch dieses Phänomen am meisten gefährdet sind. In Tabelle 1 liegt der Schwerpunkt auf den in der Literatur identifizierten Risikofaktoren Geschlecht, Alter und Staatsangehörigkeit (Lohmann und Marx 2018):

Einige Schlussfolgerungen sind unabhängig davon, welcher der beiden Armutsindikatoren betrachtet wird. Insbesondere erwerbstätige Personen im Alter zwischen 20 und 40 Jahren sowie „Nicht-Europäer“ sind einem höheren Armutsrisiko ausgesetzt als Personen, die aus einem Land der Europäischen Union stammen, welche ihrerseits wiederum stärker gefährdet sind als SchweizerInnen. Hingegen liegen keine geschlechtsspezifischen Unterschiede in Bezug auf die Einkommensarmut vor. Dieses weitläufig bekannte Ergebnis wird zuweilen als „Geschlechtsparadox der Erwerbsarmut“ (Lohmann und Marx 2018) bezeichnet, da Frauen stärker von allgemeiner Armut und Tieflohnstellen betroffen sind. Das Paradox ist auf den Effekt der Zusammenlegung von Einkommen und Ausgaben innerhalb des Haushalts zurückzuführen. Berufstätige Frauen sind der materiellen Entbehrung jedoch stärker als Männer ausgesetzt, was zum Teil auf ihre Situation nach einer Trennung und/oder Scheidung, und insbesondere auf Einelternschaft, zurückzuführen ist.

Im Weiteren werden die Hauptmerkmale eines Haushalts und die Kategorien von Erwerbstätigkeit untersucht. Dabei ist festzustellen, dass die Haushalte von Alleinerziehenden diesen Schwierigkeiten am stärksten ausgesetzt sind und dass ein noch markanterer Unterschied in Bezug auf materielle Entbehrung besteht.

Des Weiteren kann durchgängig aufgezeigt werden, dass Paare ohne Kinder am wenigsten von Einkommensarmut und materieller Entbehrung betroffen sind, gefolgt von Paaren mit einem oder zwei Kindern.

Bezüglich ArbeitnehmerInnen, die als Paar zusammenleben und drei oder mehr Kinder haben, sind die Ergebnisse jedoch unterschiedlich. Diese Paare scheinen von Einkommensarmut fast in gleichem Masse wie Haushalte von Alleinerziehenden betroffen zu sein, während sie jedoch weniger als Haushalte von Alleinerziehenden und Alleinlebenden der Gefahr der materiellen Entbehrung ausgesetzt sind. Diese Tendenz veranlasst zu der Annahme, dass die grösseren Haushalte höhere Einsparungen als Haushalte mittlerer Grösse machen, beispielsweise durch Grosseinkäufe oder zusätzlichen Wohnraumbedarf, der weniger zu Buche schlägt, als der zusätzliche Raum, der nach der Geburt eines ersten oder zweiten Kindes erforderlich wird. Ein weiterer Punkt ist die hier angewendete Standardisierung der Einkommen, die allgemein in Forschungsarbeiten verwendet wird – der erste Erwachsene zählt als eine Einheit, weitere Personen ab dem 14. Lebensjahr zählen als 0,5 Einheiten und Kinder unter 14 Jahren werden mit 0,3 berücksichtigt. Dadurch wird angenommen, dass der durch die Geburt eines Kindes entstehende zusätzliche Bedarf stets identisch und von der Anzahl der Kinder unabhängig ist.

Ausserdem besteht eine hohe Korrelation zwischen der Gefahr der Erwerbsarmut und dem Ausbildungsstand, wobei das Risiko der Einkommensarmut sowie der materiellen Entbehrung für Personen ohne nachobligatorische Ausbildung jeweils fast viermal bzw. sechsmal so hoch ist wie für Personen mit tertiärer Ausbildung.

Bezüglich der beruflichen Situation weichen die Ergebnisse jedoch deutlich voneinander ab. Selbstständigerwerbende sind in einem viel höheren Masse von Einkommensarmut betroffen als ArbeitnehmerInnen, während die materielle Entbehrung am stärksten Selbstständigerwebende ohne Angestellte und ArbeitnehmerInnen in geringerem Ausmass betrifft. Selbstständigerwerbende jedoch, die Angestellte haben, sind der materiellen Entbehrung deutlich weniger ausgesetzt. Dies ist ein Indiz dafür, dass die Zuverlässigkeit der Einkommensindikatoren für LeiterInnen von Unternehmen mit mehreren Angestellten sowie für die erwerbstätigen Mitglieder ihrer Familie begrenzt ist.

Nachdem nun die wichtigsten Risikogruppen identifiziert wurden, sollen die festgestellten Unterschiede erläutert werden, wobei der Schwerpunkt auf die der Erwerbsarmut zugrunde liegenden Mechanismen gelegt wird.

Mechanismen, die zu Erwerbsarmut führen

Es wurde ein theoretisches Modell entwickelt, das auf den Mechanismen beruht, die erwerbstätige Haushalte in eine finanziell schwierige Lage führen (Crettaz und Bonoli 2011, Crettaz 2011, Lohmann und Crettaz 2018). Es wurden hierbei vier unterschiedliche Mechanismen identifiziert.

Der erste besteht in einem geringen Lohn pro Arbeitsstunde. Von einem niedrigen Stundenlohn spricht man, wenn dieser weniger als zwei Drittel des medianen Äquivalenzeinkommens beträgt (d. h. das mittlere Einkommen, von dem die Hälfte der Erwerbsbevölkerung mehr und die andere Hälfte weniger verdient; dieses entspricht im Jahr 2015 einem Betrag von 38,80 Franken, was ungefähr einem monatlichen Bruttosalär für eine Vollzeitbeschäftigung von 6‘363 Franken für 41 Wochenarbeitsstunden entspricht). Es handelt sich hierbei um den in diesem Bereich am häufigsten verwendeten Indikator (Crettaz und Farine 2008).

Der zweite Mechanismus ist mit dem Arbeitsvolumen des Haushalts verknüpft, das aufgrund des Vorhandenseins von kleinen Kindern unter dem Mittelwert liegen kann (die überwältigende Mehrheit der Mütter arbeitet in Teilzeit, häufig mit einer prozentual geringeren Arbeitszeit, wenn die Kinder klein sind, Bonoli und al. 2016) oder aufgrund von Arbeitslosigkeit anderer Erwachsener im Haushalt.

Der dritte Mechanismus steht mit dem überdurchschnittlichen Bedarf eines Haushalts in Zusammenhang. Auch hierbei spielt das Vorhandensein von Kindern eine wichtige Rolle. Ein Paar mit zwei Kindern hat zusätzliche Kosten zu tragen, die sich am Ende der Jahre 2000 im nationalen Durchschnitt auf 1‘310 Franken pro Monat beliefen (Gerfin und al. 2008). Als weiterer Faktor gilt eine Scheidung: Beispielsweise entsteht aus einem Paar, das zwei Kinder hat und sich trennt, ein Haushalt mit einer Person und ein Einelternhaushalt mit zwei Kindern, wobei der Bedarf der beiden neu entstandenen Haushalte rund 33 Prozent über dem Ursprungshaushalt liegt (Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe, 2017).

Der vierte Mechanismus ist schliesslich mit den Sozialtransfers verknüpft, die entweder für die erwachsenen Haushaltsmitglieder bezogen werden, die nicht oder nicht mehr erwerbstätig sind (Arbeitslosen-, Invaliditäts-, Unfalls-, Alters- und Hinterbliebenenversicherungen, Sozialhilfe usw.) oder für die Kinder. Der Umstand, dass eine Person unzureichende oder keine Sozialtransfers bezieht, obwohl aufgrund ihres geringen Einkommens ein Anspruch darauf besteht, stellt einen besonderen Mechanismus dar. Die betreffenden Mechanismen werden zusammenfassend in Grafik 1 dargestellt.

Unser Ziel ist, die Auswirkungen der verschiedenen Mechanismen in der Schweiz zu untersuchen. Wir wenden diesbezüglich statistische Modelle an, so genannte „Regressionsmodelle“[1], mittels derer der Einfluss eines einzelnen Mechanismus eingeschätzt werden kann, während die Auswirkungen der jeweils anderen Mechanismen kontrolliert werden. Des Weiteren ermöglichen diese Modelle eine Bewertung der wichtigsten demografischen und sozioökonomischen Faktoren, die in der Fachliteratur identifiziert werden und insbesondere Geschlecht, Alter, Ausbildungsstand, Zivilstand, und Staatsangehörigkeit betreffen. Die genannten Phänomene stellen die Wahrscheinlichkeiten dar, von Einkommensarmut und materieller Entbehrung betroffen zu sein.

Wir stellen die wichtigsten Ergebnisse der drei ersten Mechanismen in grafischer Form dar, und zwar ein tiefer Stundenlohn, ein unter dem Durchschnitt liegendes Arbeitsvolumen des Haushalts und eine überdurchschnittliche Anzahl von Kindern pro Erwachsenem. Den Einfluss von Sozialtransfers zu bewerten ist im Rahmen eines solchen Modells (vierter Mechanismus) schwierig, da diese Leistungen einen Posten des Haushaltseinkommens und somit des untersuchten Phänomens darstellen. Um diesem Mechanismus Rechnung zu tragen, wird die Quote der Einkommensarmut mit und ohne Sozialtransfers am Haushaltseinkommen berechnet, so dass in der Folge der „armutsbekämpfende Effekt“ dieser Leistungen bemessen werden kann.

Die Ergebnisse für die ersten drei Mechanismen sind in Grafik 2 dargestellt. Für jeden Mechanismus wurde der niedrigste Wert als Referenzkategorie verwendet (weniger als 25 Franken pro Stunden, weniger als 20 Arbeitswochenstunden pro Erwachsener, ohne Kinder).

Die in Grafik 2 präsentierten Ergebnisse stellen den Einfluss dieser Variablen unter ansonsten gleichen Bedingungen dar, da der Einfluss anderer Mechanismen kontrolliert wird. Wir stellen fest, dass das Risiko, zum „Working Poor“ zu werden, durch eigene Kinder und zwar ab einem Kind pro Erwachsenen steigt. In diesem Fall erhöht sich die Wahrscheinlichkeit der Einkommensarmut um rund einen Prozentpunkt (wobei die Referenzarmutsquote 4 % beträgt) und steigt um fast 2 Punkte für materielle Entbehrung, was einem markanten Anstieg entspricht, da sich die Referenzquote der materiellen Entbehrung auf 1,4 % beläuft. Für Haushalte mit drei und mehr Kindern (anstelle von keinen Kindern) steigt das Risiko der Einkommensarmut um 6 Prozentpunkte, während sich auch die materielle Entbehrung ziemlich stark erhöht (+1 Prozentpunkt). Die Auswirkungen sind sehr gering im Fall eines halben Kindes pro erwachsene Person (Paare mit einem Kind).

Des Weiteren wird festgestellt, dass das Arbeitsvolumen des Haushalts einen entscheidenden Faktor darstellt: Bei einer Wochenarbeitszeit von 20 bis 29 Stunden (pro Erwachsener im Haushalt), anstatt weniger als 20 Stunden, sinkt die Wahrscheinlichkeit der Einkommensarmut um 7 Prozentpunkte (Referenzquote: 15,9 %) und die Wahrscheinlichkeit der materiellen Entbehrung um fast zwei Punkte (Basis: 3,7 %). Ab 30 Arbeitsstunden pro Erwachsener geht die Wahrscheinlichkeit massgeblich um 12 bis 14 Punkte für die Einkommensarmut und um 2 bis 3 Punkte für die materielle Entbehrung zurück.

In Bezug auf den Stundenlohn zeigt sich, dass ein Wert von über 35 Franken (d. h. mehr als 5‘740 Franken für eine Vollzeitstelle mit 41 Stunden pro Woche) anstatt von unter 25 Franken (weniger als 4‘100 Franken pro Monat in Vollzeit) die Wahrscheinlichkeit der Einkommensarmut um über 10 Punkte senkt (Referenzquote: 12,5 %) und die der materiellen Entbehrung um 1,5 Punkte (Referenz: 2,8 %). Bei einem Stundenlohn zwischen 25 und 35 Franken anstatt von weniger als 25 Franken ist der Einfluss jedoch deutlich geringer: Während die Gefahr der Einkommensarmut um 6,6 Punkte abnimmt, kann praktisch kein Einfluss auf das Risiko der materiellen Entbehrung nachgewiesen werden.

Im Folgenden untersuchen wir den vierten und letzten Mechanismus, in dem wir die Armutsquoten vergleichen, wenn einerseits die Sozialtransfers einbezogen und andererseits aus dem Haushaltseinkommen ausgeschlossen werden.

Ohne Sozialtransfers gäbe es doppelt so viele armutsbetroffene Erwerbstätige (15,4 %), als wenn die Transfers berücksichtigt werden (8,1 %). Die europäischen Sozialhilfesysteme ermöglichen im Allgemeinen nicht, das Einkommen von Bezugsberechtigten auf 60 % des Medianeinkommens zu erhöhen (Nelson 2013). Dies wird von den politischen EntscheidungsträgerInnen in diesen Bereichen in der Regel auch nicht angestrebt, da Bedenken um Fehlanreize in Bezug auf eine Wiederaufnahme der Beschäftigung bestehen. Dies gilt auch für die Schweiz. Die Sozialversicherungen zielen zudem nicht in erster Linie auf eine Verringerung der Armut ab (obwohl sie in vielen Fällen dies bewirken), sondern haben vielmehr zum Ziel, einen bestimmten prozentualen Anteil des vorhergehenden Einkommens zu gewährleisten. Es überrascht daher nicht, dass die Armut von erwerbstätigen Personen durch Sozialtransfers nicht vollständig ausgemerzt wird.

Schlussfolgerungen

In der Erwerbsbevölkerung sind bestimmte Gruppen viel stärker als andere von Einkommensarmut und materieller Entbehrung betroffen, wobei die Betrachtung der beiden Indikatoren in den meisten Fällen zum selben Resultat führt. Bei diesen Gruppen handelt es sich um Geringqualifizierte, Nicht-Europäer, Selbstständigerwerbende ohne Angestellte, Personen unter 40 Jahren und Einelternhaushalte.

Um nachvollziehen zu können, warum bestimmte Beschäftigungsgruppen stärker dem Armutsrisiko ausgesetzt sind, wurden die Mechanismen untersucht, die Erwerbsarmut in der Schweiz bedingen. Den grössten Einfluss scheint dabei der Mechanismus zu haben, der sich auf ein unterdurchschnittliches Arbeitsvolumen bezieht. Dieser Effekt ist in den meisten Fällen mit im Haushalt vorhandenen Kindern verbunden, wobei dieser Faktor ab einem Kind pro erwachsene Person zu einer zusätzlichen Benachteiligung führt. Das Risiko der Erwerbsarmut wird zudem durch einen geringen Stundenlohn verschärft. Letztlich ist rund die Hälfte der vor Sozialtransfers armutsbetroffenen ArbeitnehmerInnen nicht mehr von Armut betroffen, wenn Transfers und Besteuerung berücksichtigt werden. Je nach Perspektive des halbvollen oder des halbleeren Glases kann festgestellt werden, dass das Arbeitseinkommen in der Schweiz einen grossen Anteil der Bevölkerung vor Armut schützt und dass die Sozial- und Steuerpolitik in Bezug auf Erwerbsarmut verbesserungsfähig ist.

[1] Hinweis für Statistikinteressierte: Wir haben ein Probitmodell verwendet, und die vorgestellten Ergebnisse entsprechen den sogenannten „average marginal effects“, wobei die Daten nicht gewichtet sind.

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