Beziehungen im Lauf der Zeit: Kartografie der persönlichen Netzwerke in der Schweiz

N°19, September 2019
Gaëlle Aeby (Universität Genf), Jacques-Antoine Gauthier (Universität Lausanne) & Eric D. Widmer (Universität Genf ),

September 26, 2019
How to cite this article:

G. Aeby, J.-A. Gauthier & E.D. Widmer (2019). Beziehungen im Lauf der Zeit: Kartografie der persönlichen Netzwerke in der Schweiz. Social Change in Switzerland, N°19. DOI: 10.22019/SC-2019-00006

Copyright:

© the authors 2019. This work is licensed under a Creative Commons Attribution 4.0 International License (CC BY 4.0) Creative Commons License


Zusammenfassung

Der vorliegende Artikel basiert auf einer Umfrage unter 800 Personen, die in der Schweiz wohnen und in den 1950er bzw. 1970er Jahren geboren sind. Er quantifiziert die sozialen Beziehungen der Befragten und stellt sie in den Zusammenhang ihrer Lebensverläufe. Dadurch lässt sich beobachten, wie sich zeitlichen Übergänge auf das Leben der jeweiligen Personen auswirken und wie viel Zeit auf die einzelnen Lebensetappen entfällt. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass Menschen in Abhängigkeit von ihrem jeweiligen Lebensverlauf verschiedene persönliche Beziehungsnetze aufbauen. Wir teilen diese in sieben unterschiedliche Kategorien ein. Vier davon basieren auf den familiären Beziehungen in aufsteigender, absteigender oder seitlicher Linie, während die drei übrigen auf Wahlbeziehungen beruhen. Von den Besonderheiten des jeweiligen familiären Lebenslaufs hängt es somit ab, ob sich das persönliche Beziehungsnetz der betreffenden Person am Modell der Kernfamilie (Partner/in und Kinder) orientiert oder nicht. Das persönliche Beziehungsnetz hängt also insbesondere davon ab, ob die Elternschaft – zugunsten eines Lebens zu zweit oder als Single – aufgeschoben oder verworfen wird.


Copyright

© the authors 2019. This work is licensed under a Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 Unported License (CC BY-NC-ND 3.0) Creative Commons License


Einleitung

Wir leben in einer Zeit, in der die Lebensverläufe immer vielfältiger werden. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwieweit sich dieses Phänomen auch in einer Ausdifferenzierung der persönlichen Beziehungsnetze niederschlägt. Nehmen die familiären Bande auch künftig noch eine zentrale Rolle ein? Oder verlieren sie angesichts individueller Lebensereignisse und -übergänge zugunsten anderer Verbindungen an Bedeutung? Diese Frage ist von zentraler Bedeutung, stützt sich die staatliche Politik (etwa bei der Kinderbetreuung, der Studienfinanzierung und der Unterstützung von Senioren) doch nach wie vor primär auf die innerfamiliäre Solidarität. Gleichzeitig werden die familiären Lebensläufe komplexer, unter anderem durch rückläufige Geburtenraten, Scheidungen, die Bildung von Patchwork-Familien sowie die Vereinbarung von Arbeit und Familie. Daher kann anderen sozialen Akteuren wie Freundinnen und Freunden bzw. Kolleginnen und Kollegen bei der Bereitstellung emotionaler und materieller Unterstützung eine Schlüsselrolle zukommen.

Im vorliegenden Artikel beleuchten wir auf Grundlage der Erhebung Family tiMes, wie die familiären und ausserfamiliären Beziehungen der befragten Personen aussehen. Die Studie identifiziert für jede Teilnehmerin und jeden Teilnehmer diejenigen Personen, die für sie bzw. ihn wichtig sind. Auf dieser Grundlage zeigen wir auf, welche Personen sich vom Modell der sogenannten Kernfamilie distanzieren und wodurch sich ihre familiären Lebensläufe auszeichnen. Indem wir die Beziehung zwischen dem jeweiligen Lebensverlauf und der Zusammensetzung der persönlichen Netzwerke detailliert beschreiben, tragen wir zur Dokumentation der Verteilung der sozialen Ressourcen in der Schweiz bei. Die dadurch gewonnenen Erkenntnisse können dabei helfen, Risikogruppen besser zu identifizieren sowie eine Sozial- und Familienpolitik zu entwickeln, die den Unwägbarkeiten moderner familiärer Biographien und ihren Konsequenzen Rechnung trägt.

Privilegierte Beziehungen im Lebenslauf

Ein Individuum geht während seines Lebensverlaufs mit zahlreichen Menschen Beziehungen ein – primär natürlich mit seinen Familienmitgliedern, aber auch mit Nachbarn, Schulkameraden, Arbeitskollegen und sonstigen Personen, die dieselben Interessen haben oder an denselben Orten verkehren. Die Kernfamilie spielt dabei eine entscheidende Rolle – also zum einen die Orientierungsfamilie, in die das Individuum von seinen Eltern hineingeboren wird, und zum anderen die Fortpflanzungsfamilie, die es im Erwachsenenalter möglicherweise selbst gründet. Die Kernfamilie schafft zwischen Eltern und Kindern einerseits sowie zwischen Ehepartnern andererseits vielfältige, dauerhafte Interdependenzen, die funktioneller, rechtlicher oder emotionaler Natur sein können (De Singly, 1996; Kellerhals & Widmer, 2012). Die Bedeutung der ausserfamiliären Verbindungen sollte dabei jedoch nicht unterschätzt werden – unabhängig davon, ob sie gegenüber den Familienbanden als zweitrangig, subsidiär oder gleichwertig empfunden werden bzw. sogar einen höheren Wert für das Individuum besitzen (Allan, 2008; Pahl & Spencer, 2004).

Dies führt uns zu der Frage, welche Bedeutung der Familie in der Schweiz beigemessen wird. Laut einer internationalen Studie über die Praktiken im gesellschaftlichen Umgang und über die Normen der Solidarität legen liberale Sozialstaatssysteme wie das der Schweiz ihren Fokus stark auf die familiäre Solidarität sowie die individuelle Autonomie (Ganjour & Widmer, 2016). Im Rahmen einer Untersuchung über die Familien im Kanton Genf erwähnen jedoch knapp ein Drittel der Befragten Freundinnen bzw. Freunden, die sie wie vollwertige Familienmitglieder behandeln. Das veranschaulicht eine gewisse Durchlässigkeit der familiären Grenzen (Widmer et al., 2012). Eine andere Schweizer Studie konzentrierte sich schliesslich auf die Frage, mit welchen Personen wichtige Themen besprochen werden. Rund zwei Fünftel der Befragten gaben Personen aus ihrem Freundeskreis als Gesprächspartner an, rund ein Drittel nannte Personen aus ihrem beruflichen Umfeld (Viry, 2012).

Parallel zur Zusammensetzung der persönlichen Netzwerke stellt sich die Frage, welche Unterstützung die Mitglieder dieser Netzwerke dem Individuum geben können. Dieses Kriterium lässt sich als wesentliche Dimension der Integration verstehen. Dabei wird Integration hier anhand der emotionalen Unterstützung gemessen, die zwischen den Mitgliedern eines Netzwerks ausgetauscht wird. Wenn dieser Austausch sehr intensiv und das Netzwerk eng verknüpft ist, wird von bindendem Sozialkapital (bonding social capital) gesprochen. Ist der Austausch hingegen weniger intensiv und das Netzwerk eher um eine zentrale Schlüsselperson herum organisiert, ist von überbrückendem Sozialkapital (bridging social capital) die Rede (Burt, 2002; Coleman, 1988; Widmer, 2010). Das bindende Sozialkapital bietet dem Individuum im Vergleich mehr Schutz, engt aber auch stärker ein. Das überbrückende Sozialkapital räumt den Mitgliedern des Netzwerks mehr Freiräume ein, bietet ihnen aber auch weniger Sicherheit.

Die Lebensverläufe der Menschen lassen sich als eine Abfolge separater Phasen beschreiben. Voneinander getrennt werden diese durch Übergänge, die sich in den verschiedenen Lebensbereichen – z. B. in der Familie oder im Beruf – vollziehen. Jede Phase ist mit einer oder mehreren gesellschaftlichen Rollen und einem bestimmten Status verbunden und eröffnet somit die Möglichkeit, neue bedeutsame Beziehungen zu knüpfen. Die Art und Weise, wie die verschiedenen Phasen und Übergänge innerhalb der Lebensverläufe aufeinanderfolgen, hat sich im Lauf der Zeit erheblich verändert. Diese Veränderung lässt sich grob wie folgt beschreiben: Angesichts der tiefgreifenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen des 20. Jahrhunderts kam es in einer ersten Phase zunächst zu einer «Standardisierung» der Lebensverläufe. Sie resultierte aus der Institutionalisierung der Lebensabschnitte und der daraus folgenden Unterteilung in drei stark miteinander verknüpfte, übergeordnete Etappen: Ausbildung, produktive Phase und Ruhestand.

Mit dem Ende des 20. Jahrhunderts wurde jedoch eine Phase der «Entstandardisierung» eingeläutet, die mit einer zunehmenden Unsicherheit in der Entwicklung der individuellen Lebensverläufe sowohl auf beruflicher als auch auf familiärer Ebene einhergeht (Levy & Widmer, 2013). Dieser Umstand hat zu einer beschränkten Pluralisierung und Geschlechterspezifizierung der Lebensverläufe insbesondere im beruflichen Bereich geführt. Beruflich herrscht in der Schweiz bei Männern das Vollzeitmodell vor, während bei den Frauen verschiedene Modelle koexistieren. Diese Modelle zeichnen sich durch einen mehr oder weniger ausgeprägten Rückzug der Frauen vom Arbeitsmarkt aus und unterstreichen die Tatsache, dass Frauen nach wie vor den Grossteil der Hausarbeit übernehmen (Le Goff & Levy, 2016). Generell sind die meisten Übergänge (wie Eheschliessungen und Scheidungen) reversibel und somit potenziell mit Rollenwechseln verbunden, welche die Zusammensetzung und Struktur der persönlichen Beziehungsnetze bis zu einem gewissen Grad verändern können.

Führt diese Pluralisierung der Lebensverläufe in einem Land wie der Schweiz nun auch zu einer Diversifikation der persönlichen Beziehungsnetze, oder geniessen die Familienbande weiterhin Priorität? Ziel des vorliegenden Artikels ist es, auf der Basis von Umfragedaten einige Antworten auf diese Frage zu liefern.

Die Studie Family tiMes

Im Rahmen der Studie Family tiMes «Family trajectories and social networks»[1] (Familiäre Verläufe und soziale Beziehungsnetze: eine konfigurative Untersuchung der Lebensläufe) wurden im Jahr 2011 803 in der Schweiz ansässige Personen befragt. Diese verteilten sich auf zwei Geburtskohorten (die Jahrgänge 1950-1955 und 1970-1975), wobei 51% der Befragten Frauen waren und 82% die Schweizer Nationalität besassen. Zwei Drittel der Befragten hatten eine Berufsausbildung abgeschlossen, und ein Fünftel von ihnen war im Besitz eines tertiären Bildungsabschlusses. 11% der Befragten hatten nur die obligatorische Schule absolviert, während 7% ihren Bildungsweg nach Ablegung der eidgenössischen Maturität bzw. eines Fachmittelschulabschlusses beendet hatten. Das Studiendesign ist insofern originell, als es Instrumente wie den Lebenskalender mit einem soziometrischen Ansatz zur Beschreibung von persönlichen Beziehungsnetzen verbindet (Widmer, Aeby, & Sapin, 2013). Lebenskalender ermöglichen es, die familiären Lebensläufe der Befragten im Nachhinein zu rekonstruieren. Auf dieser Grundlage haben wir eine Typologie der Lebensverläufe erstellt (Gauthier, 2013). Die Ermittlung der persönlichen Beziehungsnetze erfolgt dagegen auf Grundlage der folgenden Standardfrage: «Welche Menschen waren im vergangenen Jahr sehr wichtig für Sie, auch wenn Sie sich nicht gut mit ihnen verstanden haben?»

Vielfältige persönliche Netzwerke

Im Durchschnitt umfasst das Netzwerk der aus Sicht der Befragten sehr wichtigen Personen 3,9 Mitglieder[2]. Es lassen sich drei verschiedene Netzwerkgrössen voneinander unterscheiden: kleine Netzwerke (bestehend aus einem oder zwei Mitgliedern, 23,4%), mittlere Netzwerke (drei oder vier Mitglieder, 47,5%) und grosse Netzwerke (fünf oder mehr Mitglieder, 29%). Betrachtet man die am häufigsten genannten Beziehungstypen etwas näher, ergibt sich folgende Reihenfolge: Platz eins belegt – unabhängig vom Familienstand – der Partner bzw. die Partnerin (73%). Dann folgen Freundinnen bzw. Freunde (45,3%) und die Kinder (44,6%). Als Nächstes werden Mitglieder der Orientierungsfamilie genannt, und zwar die Eltern (32,8%) sowie Brüder und Schwestern (29,8%). Somit schlagen sich die familiären Verbindungen in aufsteigender (Eltern), absteigender (Kinder) und seitlicher Linie (Geschwister) in den persönlichen Beziehungsnetzen nieder.

Um diese Informationen zu reduzieren, ohne ihre Mehrdimensionalität zu verlieren, haben wir eine Hauptkomponentenanalyse in Verbindung mit einem hierarchischen, auf den genannten Beziehungstypen beruhenden Klassifikationsverfahren durchgeführt. Dies erlaubt es uns, eine Typologie der persönlichen Beziehungsnetze aufstellen. Sie umfasst sieben Beziehungstypen, die wir nachfolgend kurz beschreiben (siehe Tabelle 1). Ein Typus konzentriert sich auf die Partnerin bzw. den Partner sowie die Kinder und damit auf die Fortpflanzungsfamilie (Netzwerk Fortpflanzung, 23,0%), ein zweiter auf die Eltern, das heisst die Orientierungsfamilie (Netzwerk Orientierung, 13,0%), und ein dritter auf die Geschwister (Netzwerk Geschwister, 12,3%), derweil ein weiterer Typus die weitere Verwandtschaft abdeckt (Netzwerk Verwandtschaft, 8,6%). Ein Typus ist auf die Partnerin und männliche Freunde fokussiert (Netzwerk männlicher Freundeskreis, 10,9%), während ein weiterer Typus auf die Kinder und Freundinnen ausgerichtet ist (Netzwerk weiblicher Freundeskreis, 24,9%)[3]. Und schliesslich gibt es noch den Typus, der sich auf ausserfamiliäre Verbindungen etwa zu Arbeitskolleginnen und -kollegen konzentriert (Netzwerk Beruf, 7,3%). Die Verteilung der verschiedenen Typen stellt sich in den beiden Geburtskohorten recht ausgewogen dar. Das Netzwerk Orientierung ist in der jüngeren Kohorte indes stärker vertreten, während das Netzwerk Beruf in der älteren Kohorte etwas mehr Gewicht hat.

Es gibt verschiedene Indikatoren zur Messung von bindendem und überbrückendem Sozialkapital. An dieser Stelle betrachten wir aber ausschliesslich die Dichte der gegenseitigen emotionalen Unterstützung und die Zentralität des/der Befragten (die Ich-Zentralität) in diesem Austausch[4]. Wir stellen fest, dass die Netzwerke männlicher Freundeskreis und Fortpflanzung sehr dicht sind. Ausserdem steht in allen Netzwerken, die primär auf Wahlbeziehungen beruhen (männlicher Freundeskreis, weiblicher Freundeskreis, Beruf), das Ich sehr stark im Zentrum. Des Weiteren variiert die Netzwerkgrösse von Typus zu Typus. Im Durchschnitt ist das Netzwerk männlicher Freundeskreis am kleinsten (2,7) und das Netzwerk Verwandtschaft am grössten (5,1).

Entwicklung persönlicher Netzwerke auf Grundlage der familiären Lebensläufe

In einem zweiten Schritt versuchen wir, die Logik hinter der Entwicklung dieser Netzwerktypen zu erklären – und zwar unter Berücksichtigung der familiären Lebensläufe der Befragten sowie ihrer soziodemografischen Merkmale[5]. Dabei stellen wir Folgendes fest: Im familiären Lebenslauf der Personen mit Netzwerken, die auf ihre Partnerin bzw. ihren Partner und ihr(e) Kind(er) ausgerichtet sind (Netzwerk Fortpflanzung), sticht der meist im dritten Lebensjahrzehnt erfolgte Übergang in die Elternschaft heraus. Auf diesen Übergang folgt eine lange Lebensphase, die in der Familie verbracht wird. Das verdeutlicht, dass hier der Übergang alleine zur Herausbildung des Beziehungsnetzwerks nicht ausreicht. Vielmehr ist in diesem Fall die langfristige Elternschaft entscheidend. Netzwerke dieses Typus sind meist sehr dicht und verzweigt. Somit sind sie durch bindendes Sozialkapital geprägt. Anhand des Profils von Petra[6] (Abbildung 1A) lässt sich dieser Typ von persönlichem Beziehungsnetzwerk veranschaulichen. Petra, die wir im Rahmen unserer Studie befragt haben, gehört der Geburtskohorte 1950-1955 an. Petra bekam ihr erstes Kind im Alter von 26 Jahren. Danach arbeitete sie meist als Hausfrau im eigenen Haushalt, in dem neben ihrem Ehepartner schliesslich auch insgesamt drei Kinder lebten. Nur ab und zu war sie in Teilzeit berufstätig. Ihr persönliches Beziehungsnetz konzentriert sich auf eine ihrer Töchter, auf ihren Ehemann und auf ihre jüngere Schwester. Sie alle unterstützen sich gegenseitig emotional.

Personen, die ein auf die Eltern fokussiertes Netzwerk vom Typ Orientierung entwickelt haben, gehören häufiger der jüngeren Kohorte an. Interessanterweise sind einige von ihnen bereits Eltern. Die Elternschaft besteht in diesen Fällen aber noch nicht lange. Menschen mit einem auf Brüder und Schwestern ausgerichteten Geschwister-Netzwerk leben häufiger alleine, sind tendenziell keine Partnerschaft eingegangen und haben auch keine Kinder. Und wie steht es mit Personen, die neben ihrer Familienfokussierung auch Personen von ausserhalb der Kernfamilie in ihr Netzwerk integrieren (Netzwerk vom Typ Verwandtschaft)? Bei ihnen steht die Partnerschaft häufiger im Zentrum des familiären Lebenslaufs.

Wenden wir uns nun den Netzwerken zu, in denen freundschaftliche Bande und andere ausserfamiliäre Verbindungen dominieren. Bei ihnen führen Gendereffekte dazu, dass Männer ihre Netzwerke um ihre männlichen Freunde herum knüpfen und Frauen um ihre Freundinnen. Die Bildung von Beziehungs­netzwerken mit Freunden bzw. Freundinnen ist zum einen vergleichsweise häufig bei Männern zu beobachten, die in einer kinderlosen Partnerschaft (oder in einer Partnerschaft mit Kleinkindern) leben, und zum anderen bei alleinerziehenden Frauen. Diese zwei Gruppen stehen für zwei separate Etappen im Lebensverlauf. Und schliesslich sind in Netzwerken vom Typ Beruf Personen überrepräsentiert, die einen tertiären Bildungsabschluss absolviert haben. Bei dieser Art von Netzwerken hat also das Bildungsniveau einen massgeblichen Einfluss.

Zur Veranschaulichung von Netzwerken, die um ausserfamiliäre Verbindungen herum geknüpft werden, möchten wir das Beispiel von Carl[7] anführen (Abbildung 1B, Kohorte 1970-75). Sein Netzwerk fällt unter die Kategorie männlicher Freundeskreis. Carl lebt mit seiner Partnerin zusammen, hat zwei kleine Kinder und arbeitet Vollzeit. Als zentrale Personen seines persönlichen Beziehungsnetzes führt er seine Partnerin und seine Eltern sowie ausserdem insgesamt fünf Freunde an, ohne seine Kinder zu nennen. Das zeigt, dass der Übergang in die Elternschaft nicht lange zurückliegt. Auf der Beziehungsebene ist die Elternschaft noch weniger relevant als die kürzlich beendete Lebensphase, die auf seine Partnerschaft und die Bindung zu seinen Freunden ausgerichtet war. Im Übrigen ist sein Netzwerk sternförmig um ihn als zentrales Element herum organisiert (Kategorie des überbrückenden Sozialkapitals). Zudem ist Carls Netzwerk grösser als durchschnittliche Netzwerke vom Typ männlicher Freundeskreis.

Schlussfolgerung

Unser Ziel bestand darin, die Vielfalt der persönlichen Beziehungsnetze vor dem Hintergrund der Pluralisierung der Lebensverläufe zu beleuchten. Dabei legten wir unser Augenmerk auf die Personen, die für die Befragten wichtig sind. Es hat sich gezeigt, dass die Partnerin bzw. der Partner im Beziehungsnetz eine zentrale Position einnimmt. Gleiches gilt – in abgeschwächter Form – für die Kinder. Allerdings gibt es auch abweichende Konstellationen. Diese sind vor allem bei Personen zu finden, welche eine Elternschaft zugunsten eines Lebens zu zweit oder als Single aufgeschoben oder verworfen haben. Des Weiteren können Scheidungen bzw. Trennungen dem familiären Lebenslauf eine neue Richtung geben. Von den Besonderheiten des jeweiligen familiären Lebenslaufs hängt es ab, ob sich die Befragten mehr oder weniger am Referenzmodell der Fortpflanzungs-Kernfamilie orientieren.

Bei unserer Studie verfolgten wir einen ganzheitlichen Ansatz. Das heisst, dass wir zur Ermittlung der persönlichen Beziehungsnetze den gesamten Lebensverlauf berücksichtigt und uns nicht auf einen Einzelmoment – wie z. B. den Übergang in die Elternschaft – konzentriert haben. Mit dieser beschränkten Pluralisierung der Lebensverläufe lässt sich auch erklären, weshalb wir mehrere Netzwerktypen vorgefunden haben. Schliesslich ermöglicht der internationale Vergleich, die Ergebnisse in einem grösseren Kontext zu betrachten. So hat sich gezeigt, dass der Partnerin bzw. dem Partner und den Freundinnen bzw. Freunden in der Schweiz eine zentralere Rolle eingeräumt wird als etwa in Portugal oder Litauen (Wall et al., 2018).

Generell sind unsere Resultate als dynamisch zu verstehen. Denn sie zeigen, dass die sozialen Beziehungen massgeblich von den Ereignissen und Übergängen abhängen, die den jeweiligen Lebensverlauf prägen. Insofern fordern sie uns dazu auf, politische Massnahmen zu entwickeln und zu fördern, die sich an die Bedürfnisse jedes und jeder Einzelnen anpassen lassen und die an kritischen Lebensereignissen und -übergängen ansetzen. Die Geburt eines Kindes, eine Scheidung, eine Phase der Arbeitslosigkeit oder ein Unfall sind mögliche Beispiele für derartige Vorkommnisse, welche die Beziehungsgleichgewichte verändern und die Betroffenen und die ihnen nahestehenden Personen in Schwierigkeiten bringen können.

[1]Finanziert durch den Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (Nr. 100017_130343/1, 2011-2013). Diese Veröffentlichung erhielt auch die Unterstützung des Nationalen Forschungsschwerpunkts LIVES – Überwindung der Verletzbarkeit im Verlauf des Lebens (NFS LIVES). Dieser wird vom Schweizer Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Förderung finanziert (Zuschuss-Nummer 51NF40-160590). Die Autoren danken dem Schweizer Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung für die finanzielle Unterstützung.

[2] Von der 803 Personen umfassenden Gesamtstichprobe liegen aufgrund eines praktischen Problems nur 786 Antworten zum Teilthema Beziehungsnetze vor. 31 dieser 786 Personen verfügen über «leere Netzwerke», haben also in der Befragung keine bedeutsame Person angegeben. Letztere wurden bei der Berechnung der durchschnittlichen Netzwerkgrösse und des Verbindungstypus nicht berücksichtigt.

[3] Die Bezeichnungen männlicher Freundeskreis und weiblicher Freundeskreis wurden auf Grundlage unserer Ergebnisse definiert. Bei den Personen mit einem Netzwerk, das sich aus der Partnerin bzw. dem Partner und männlichen Freunden zusammensetzt, handelt es sich im Wesentlichen um Männer. Hingegen entfällt die Mehrzahl der Netzwerke, die sich aus den eigenen Kindern und Freundinnen zusammensetzen, auf Frauen.

[4] Bei der Ermittlung der Dichte wird die Zahl der vorhandenen Verbindungen zur Anzahl der möglichen Verbindungen zwischen den Netzwerkmitgliedern ins Verhältnis gesetzt. Die Ich-Zentralität gibt Auskunft über den Anteil der Verbindungen, die das Ich einschliessen. Sämtliche Skalen sind bezogen auf die Netzwerkgrösse standardisiert und bewegen sich zwischen 0 und 1.

[5] Eine genaue Beschreibung der verwendeten Statistikmethoden findet sich in Aeby, Gauthier & Widmer (2019).

[6] Fiktiver Vorname

[7] Fiktiver Vorname

Bibliographie

Aeby, G., Gauthier, J.-A., & Widmer, E. D. (2019). Beyond the nuclear family: Personal networks in light of work-family trajectories. Advances in Life Course Research, 29, 51-60.

Allan, G. (2008). Flexibility, friendship, and family. Personal Relationships, 15, 1-16.

Burt, R. S. (2002). The social capital of structural holes. In M. F. Guillén, R. Collins, P. England, & M. Meyer (Eds.), The new economic sociology: Developments in an emerging field (p. 148–190). New York: Russell Sage Foundation.

Coleman, J. S. (1988). Social capital in the creation of human capital. American Journal of Sociology, 94, S95‑S120.

De Singly, François. 1996. Le couple, le soi et la famille, Paris : Nathan.

Ganjour, O., & Widmer, E.. (2016). Patterns of family salience and welfare state regimes: sociability practices and support norms in a comparative perspective. European Societies, 18(3), 201-220.

Gauthier, J.-A. (2013). Optimal matching, a tool for comparing life-course sequences. In R. Levy & E. D. Widmer (Éd.), Gendered life courses between standardization and individualization: A European approach applied to Switzerland (p. 37‑49). Wien: LIT Verlag.

Kellerhals, J., & Widmer, E. D. (2012). Familles en Suisse: les nouveaux liens (3e éd.). Lausanne: Presses polytechniques et universitaires romandes.

Le Goff, J.-M., & Levy, R. (Éd.). (2016). Devenir parents, devenir inégaux: transition à la parentalité et inégalités de genre. Zürich: Seismo.

Levy, R., & Widmer, E. D. (Éd.). (2013). Gendered life courses between standardization and individualization: A European approach applied to Switzerland. Vienne: LIT Verlag.

Pahl, R., & Spencer, L. (2004). Personal communities: Not simply families of ‘fate’ or ‘choice’. Current Sociology, 52(2), 199–221.

Wall, K., Widmer, E. D., Gauthier, J.-A., Česnuitytė, V., & Gouveia, R. (Éd.) (2018). Families and personal networks: An international comparative perspective. UK: Palgrave Macmillan.

Viry, G. (2012). Residential mobility and the spatial dispersion of personal networks: Effects on social support. Social Networks, 34(1), 59‑72.

Widmer, E. D. (2010). Family configurations: A structural approach to family diversity. Farnham: Ashgate.

Widmer, E. D., Aeby, G., & Sapin, M. (2013). Collecting family network data. International Review of Sociology, 23(1), 27–46.

Widmer, E. D., Favez, N., Aeby, G., De Carlo, I., & Doan, M.-T. (2012). Capital social et coparentage dans les familles recomposées et de première union (Vol. Sociograph no.13). Genève: Université de Genève.



Except where otherwise noted, content on this site is licensed under a Creative Commons Attribution 4.0 International License. Creative Commons License ISSN: 2297-5047

2015 © - Powered by FORS

FORS | Bâtiment Géopolis, 5th floor | Reception desk - room 5614 | CH-1015 Lausanne | +41 (0)21 692 37 30 | info@forscenter.ch