Einstellungen zur Geschlechtergleichstellung in der Schweiz, 2000-2017

N°25, Februar 2021
Christina Bornatici (FORS), Jacques-Antoine Gauthier (Universität Lausanne) & Jean-Marie Le Goff (Universität Lausanne),

February 8, 2021
How to cite this article:

Bornatici, J.-A. Gauthier & J.-M. Le Goff (2021). Einstellungen zur Geschlechtergleichstellung in der Schweiz, 2000-2017. Social Change in Switzerland, N°25. doi: 10.22019/SC-2021-00002

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Zusammenfassung

In diesem Artikel werden die Trends von Einstellungen zur Geschlechtergleichstellung in der Schweiz zwischen 2000 und 2017 analysiert. Es wird aufgezeigt, dass die Einstellungen zu den sozialen Rollen von Frauen immer egalitärer werden, während die Einstellungen zur Erreichung der Gleichstellung stabil bleiben. Es herrscht zwar Konsens über die Erwerbsarbeit von Frauen, aber unsere Ergebnisse weisen auf das Fortbestehen einer traditionellen Auffassung der Mutterrolle hin. Des Weiteren zeigt sich ein Generationenunterschied in der Wahrnehmung der Erreichung der Geschlechtergleichstellung: Jüngere Menschen vertreten eher die Meinung, dass Frauen in der Schweiz nicht mehr diskriminiert werden, und befürworten weniger Massnahmen zur Frauenförderung. unserer Zudem zeigt sich, dass Frauen, die in den Arbeitsmarkt eintreten, egalitäre Einstellungen zur Erwerbsarbeit von Frauen und Müttern entwickeln, während aus dem Arbeitsmarkt ausscheidende Frauen traditionellere Einstellungen übernehmen.


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Einleitung

In der Schweiz, wie auch anderenorts, hat das bürgerliche Familienmodell die Differenzierung der sozialen Rollen von Frauen und Männern begünstigt. Gemäss diesem Modell sind Frauen auf häusliche Aufgaben und die Erziehung der Kinder im privaten Bereich beschränkt, während Männer in der Rolle des Ernährers eine berufliche oder gar politische Karriere im öffentlichen Bereich verfolgen. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts hat sich jedoch einiges verändert. Inzwischen erlangen ebenso viele Frauen wie Männer einen Hochschulabschluss. Frauen nehmen stärker am Arbeitsmarkt teil und bleiben immer häufiger berufstätig, wenn sie Mutter geworden sind, während Männer sich verstärkt um Hausarbeit und Kindererziehung kümmern (BFS, 2019a). Dennoch bestehen zahlreiche Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern fort, sowohl bei der Arbeitsteilung im privaten Bereich als auch bei der beruflichen Stellung und der politischen Vertretung im öffentlichen Raum (BFS, 2019a).

Die Einstellungen in Bezug auf die Rollen von Frauen und Männern haben sich gleichwohl allgemein hin zu mehr Gleichberechtigung entwickelt (siehe Knight & Brinton, 2017 für Europa). Während in einigen Arbeiten (zum Beispiel Inglehart & Norris, 2003) davon ausgegangen wird, dass sich die Einstellungen und die Gleichstellungspraktiken weiter verbessern werden, wird in anderen Studien darauf hingewiesen, dass seit Mitte der 1990er Jahre die egalitären Einstellungen in den USA (Pepin & Cotter, 2018) oder in Australien (van Egmond et al., 2010) stagnieren oder sogar rückläufig sind. Wie sieht die Situation in der Schweiz aus? Glauben die Schweizerinnen und Schweizer, dass es zwischen Frauen und Männern eine echte Gleichstellung gibt? Wie ist ihre Einstellung gegenüber erwerbstätigen Müttern? Wie haben sich diese Einstellungen in den letzten zwanzig Jahren verändert? Sind diese Trends abhängig von der jeweiligen Generation, der wir angehören, oder von unseren persönlichen Erfahrungen? In diesem Artikel werden durch Analyse der Daten des Schweizer Haushalt-Panels (SHP, 2019) Antworten auf diese Fragen gegeben.

Die Einstellungen zur Geschlechtergleichstellung

Eine Einstellung kann definiert werden als die Disposition, positiv oder negativ auf eine Vorstellung, einen Gegenstand, eine Person oder eine Situation zu reagieren (Ajzen & Fishbein, 1980). Die Einstellungen zur Geschlechtergleichstellung spiegeln somit wider, inwieweit der Grundsatz der Gleichstellung von Frauen und Männern unterstützt wird. Die Einstellungen reichen von traditionellen (oder konservativen) bis hin zu egalitären Einstellungen. Menschen mit traditionellen Einstellungen unterstützen die geschlechtsspezifische Unterscheidung von Frauen- und Männerrollen im Sinne des bürgerlichen Familienmodells bzw. die männliche Vormachtstellung, die sie auf natürliche und angeborene Unterschiede zurückführen. Menschen mit egalitären Einstellungen sind dagegen der Auffassung, dass Frauen und Männer grundsätzlich gleich sind und dass biologische Unterschiede nicht als Rechtfertigung für die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Ungleichheiten herangezogen werden können (Delphy, 2001). Es sollte daher selbstverständlich sein, dass Frauen und Männer die gleichen Rechte und Chancen haben und dieselben sozialen Rollen übernehmen können.

Die Einstellungen zur Gleichstellung der Geschlechter beeinflussen unser Verhältnis zum anderen Geschlecht, die schulische und berufliche Orientierung junger Menschen (Gianettoni, 2019) und die Gestaltung des Berufs- und Familienlebens von Paaren (Levy, 2018). Im weiteren Sinne prägen die individuellen Einstellungen die Normen und das vorherrschende Kulturmodell. Das vorherrschende Kulturmodell wirkt sich wiederum auf das Spektrum gesellschaftlich akzeptierter Einstellungen und Verhaltensweisen aus (Pfau‐Effinger, 1998) und beeinflusst den Kontext, in dem Sozial- und Familienpolitik betrieben wird. (Martin & Modak, 2015)

Den in der Schweiz durchgeführten Studien zufolge sind die Faktoren, welche die Einstellungen zu den Geschlechterrollen in der Schweiz beeinflussen, mit denen anderer Länder vergleichbar. Männer und Personen mit geringer Bildung vertreten traditionellere Einstellungen im Vergleich zu Frauen und Personen mit hohen Bildungsabschlüssen (zum Beispiel BFS, 2017). Berufstätige Frauen und Mütter, die unverheiratet mit ihrem Partner zusammenleben, haben ein egalitäreres Rollenverständnis als nicht berufstätige Frauen bzw. verheiratete Mütter (Kuhn & Ravazzini, 2018; Ryser & Le Goff, 2015). Die meisten Paare behalten egalitäre Einstellungen bei, nachdem sie Eltern geworden sind, während die familiären und beruflichen Aufgaben ungleich verteilt sind (Bühlmann et al., 2016). Den Umfragen des Bundesamtes für Statistik (BFS) zu Familien und Generationen zufolge zeichnet sich seit 1995 ein Trend hin zu positiveren Einstellungen zur Erwerbsarbeit von Müttern mit Kindern im Vorschulalter ab, obgleich im Jahr 2018 ein «nicht zu vernachlässigender» Anteil von Frauen (27 %) und Männern (36 %) diesbezüglich weiterhin «skeptisch» eingestellt ist (BFS, 2019b, S. 28). Bezüglich der Wahrnehmung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern in der Schweiz war die Mehrheit der Bevölkerung 2018 der Ansicht, dass die Gleichstellung noch nicht oder nur teilweise erreicht wurde (Fuchs et al., 2018).

Daten und Kennzahlen

Unsere Studie basiert auf den Daten des Schweizer Haushalt-Panels (SHP, 2019), welche seit 1999 jährlich erhoben werden. Durch die Nachverfolgung derselben Individuen über viele Jahre hinweg ermöglicht das SHP, Veränderungen von Einstellungen im Lebenslauf ebenso zu beobachten wie historische Variationen. Die Fragen zu den Einstellungen zur Geschlechtergleichstellung wurden zwischen 2000 und 2011 jedes Jahr und danach in den Jahren 2014 und 2017 gestellt.

Da Einstellungen nicht unmittelbar beobachtbar sind, erfolgt ihre Beurteilung auf der Grundlage von Antworten auf von Sexismus-Skalen abgeleitete Indikatoren, welche im Laufe der Zeit entsprechend den Änderungen der Gleichstellungsstandards entwickelt wurden. Das SHP verwendet vier Indikatoren zur Beurteilung der Einstellungen zur Geschlechtergleichstellung (siehe Tabelle 1): die Einstellungen zur Erwerbsarbeit von Frauen (1) und Müttern (2), die Einstellung zur Diskriminierung von Frauen (3) und die Einstellung zu den Massnahmen zur Frauenförderung (4). Die Indikatoren lassen sich zwei Ebenen zuordnen: Einstellungen zu den Geschlechterrollen (1-2) und Einstellungen zur Erreichung der Gleichstellung (3-4).

Diese Indikatoren stammen aus Skalen des allgemeinen und modernen Sexismus (Swim et al., 1995). Die Indikatoren für allgemeinen Sexismus messen die Befürwortung von traditionellen Rollen und Stereotypen in Bezug auf die unterschiedlichen Eigenschaften und Fähigkeiten von Frauen und Männern. In einem Umfeld der Förderung der Gleichstellung ist eine offene sexistische Haltung gesellschaftlich geächtet. Die Befragten können demnach versucht sein, ihre Einstellungen zu verbergen und sozial wünschenswerter zu antworten. Es wurden daher die modernen Sexismus-Indikatoren entwickelt, um eine subtilere Form von Sexismus indirekt zu messen, im Rahmen derer der Fortbestand der Diskriminierung von Frauen bestritten und die Forderungen von Frauen und die Massnahmen zur Frauenförderung abgelehnt werden. Der moderne Sexismus begünstigt somit die Beibehaltung des Status quo in Bezug auf die Ungleichheit von Frauen und Männern.

Jeder Indikator entspricht einer Aussage, zu der die Teilnehmenden den Grad ihrer Zustimmung auf einer Skala von 0 bis 10 angeben. Die Antworten, welche egalitäre Geschlechterrollen befürworten, die bestehende Diskriminierung von Frauen anerkennen und Massnahmen zur Förderung der Gleichstellung unterstützen, weisen auf egalitäre und nicht sexistische Einstellungen hin. In den folgenden Analysen wurden die Indikatoren so codiert, dass ein hoher Wert auf egalitäre Einstellungen und folglich auf eine Befürwortung der Geschlechtergleichstellung hinweist, während ein niedriger Wert traditionelle Einstellungen anzeigt, die die Ungleichstellung der Geschlechter unterstützen.

Widerstand gegen die Teilhabe von Müttern an der Arbeitswelt

In Abbildung 1 wird der Mittelwert der Antworten von erwachsenen Teilnehmenden für jeden Indikator und jedes Umfragejahr dargestellt.[1]Über den gesamten Untersuchungszeitraum betrachtet, sind die Einstellungen von Männern weniger egalitär als die der Frauen, was die Ergebnisse früherer Studien bestätigt. Die Einstellungen von Frauen und Männern verändern sich jedoch gleichermassen. So sind Frauen und Männer zwischen 2000 und 2017 gegenüber den Geschlechterrollen etwas egalitärer geworden, während ihre Einstellungen zur Erreichung der Gleichstellung stabil geblieben sind.

Neben diesen allgemeinen Trends besteht eine erhebliche Diskrepanz zwischen der Befürwortung der Erwerbsarbeit von Frauen und jener von Müttern mit Kindern im Vorschulalter. Es besteht ein grösserer Konsens über die Legitimität der Berufstätigkeit von Frauen (mit einem globalen Mittelwert von 8,3 bei den Frauen und 8,0 bei den Männern) im Vergleich zur Erwerbstätigkeit von Müttern (Frauen: 4,8; Männer: 3,8). Die Einstellungen zur Diskriminierung von Frauen (Frauen: 5,5; Männer: 5,1) und zu den Massnahmen zur Frauenförderung (Frauen: 6,0; Männer: 5,4) befinden sich dazwischen. Insgesamt sind die Einstellungen gegenüber der Erwerbsarbeit von Müttern am traditionellsten.

Weniger egalitäre Einstellungen bei jüngeren Menschen

Bei der Analyse generationsbedingter Differenzen unterscheiden wir vier typische Generationen: die stille Generation (Personen, die bis 1949 geboren wurden), die Baby-Boomer (Personen, die zwischen 1950 und 1964 geboren wurden), die Generation X (Personen, die zwischen 1965 und 1979 geboren wurden) und die Millennials (oder Generation Y, der seit 1980 geborene Personen angehören). In Abbildung 2 wird der Mittelwert der Antworten für jedes Umfragejahr und jeden Indikator nach der Generation der Teilnehmenden dargestellt.

Wir waren davon ausgegangen, dass jüngere Generationen, die in einem egalitären Kontext sozialisiert sind, im Vergleich zu älteren Generationen weniger traditionell eingestellt sind. Dies ist aber nicht der Fall. Vielmehr vertreten die Millennials – die Jüngsten – bei drei der vier Indikatoren traditionellere Einstellungen als frühere Generationen. So sind im Vergleich zur älteren Bevölkerung weniger Millennials der Ansicht, dass Frauen in bestimmten Bereichen weiterhin diskriminiert werden und dass mehr Massnahmen zur Förderung der Gleichberechtigung erforderlich wären. Die Millennials stehen auch der Erwerbsarbeit von Frauen weniger positiv gegenüber. Bei den Einstellungen zur Erwerbsarbeit von Müttern konnten keine statistisch signifikanten Unterschiede zwischen den Generationen festgestellt werden. Allerdings gilt es darauf hinzuweisen, dass der Trend hin zu egalitäreren Einstellungen unter den Millennials stärker ausgeprägt ist.

Einfluss der beruflichen Tätigkeit

Für die Untersuchung der Beziehung zwischen beruflicher Tätigkeit und den Einstellungen zur Geschlechtergleichstellung beschränken wir unsere Analysen auf Personen im Alter zwischen 18 und 64 Jahren. In Abbildung 3 werden die unterschiedlichen Einstellungen nach Beschäftigungsgrad aufgezeigt.

Im Hinblick auf die Einstellungen zu den Geschlechtsrollen vertreten Frauen, die keiner Erwerbsarbeit nachgehen, die traditionellsten Einstellungen, gefolgt von Frauen mit geringem Beschäftigungsgrad.[2] Frauen mit einem hohen Beschäftigungsgrad (50-100 %) befürworten am stärksten die Teilhabe von Frauen am Arbeitsmarkt. Sie erkennen auch stärker an, dass Frauen in bestimmten Bereichen diskriminiert werden. Allerdings bestehen Unterschiede in Bezug auf ihre Einstellungen zur Erwerbsarbeit von Müttern. Frauen, die in Vollzeit arbeiten, stehen der Erwerbsarbeit von Müttern deutlich weniger positiv gegenüber als solche, die einer Teilzeitarbeit mit einem Beschäftigungsgrad von 50-90 % nachgehen.

Demgegenüber befürworten Männer, die nicht erwerbstätig sind oder in Teilzeit arbeiten, verstärkt die Erwerbsarbeit von Müttern und sind sich der Diskriminierung von Frauen stärker bewusst als Männer mit Vollzeitstellen.[3] Im Vergleich zu Letzteren stehen erwerbslose Männer der Teilnahme von Frauen am Arbeitsmarkt jedoch weniger positiv gegenüber. Insgesamt konnten keine signifikanten Unterschiede zwischen den Einstellungen von erwerbslosen Männern und in Teilzeit tätigen Männern (mit niedrigerem oder höherem Beschäftigungsgrad) festgestellt werden.

Diese Ergebnisse können auf einen Auswahleffekt (zum Beispiel, dass sich Frauen mit egalitären Einstellungen entscheiden, mehr zu arbeiten) und/oder einen Anpassungseffekt (zum Beispiel, dass berufstätige Frauen egalitärere Einstellungen entwickeln) zurückzuführen sein. Da es sich beim SHP um eine Längsschnittstudie handelt, im Rahmen derer Jahr für Jahr dieselben Personen befragt werden, kann ein allfälliger Anpassungseffekt ermittelt werden.

Unsere Analyse zeigt, dass Frauen, die in den Arbeitsmarkt eintreten, unabhängig von ihrem Beschäftigungsgrad egalitärere Einstellungen zur Erwerbsarbeit von Frauen und Müttern entwickeln, was einem Anpassungseffekt gleichkommt (siehe Tabelle 2). Das Gegenteil trifft aber ebenfalls zu: Frauen, die aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden, vertreten in der Folge traditionellere Einstellungen. Für Männer scheinen sich nur die Einstellungen zur Erwerbsarbeit von Müttern je nach Beschäftigungsgrad zu verändern. Diejenigen, die in Teilzeit mit einem Beschäftigungsgrad von 50-90 % zu arbeiten beginnen oder aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden, entwickeln egalitärere Einstellungen gegenüber berufstätigen Müttern.

 

Schlussfolgerung

Aus unserer Studie lassen sich vier zentrale Schlussfolgerungen ableiten. Erstens beobachten wir auf Ebene der Schweizer Bevölkerung unterschiedliche Trends in Bezug auf die Entwicklung der Einstellungen zur Geschlechtergleichstellung in den letzten zwanzig Jahren: Die Einstellungen zu den sozialen Rollen, die Frauen generell zugeschrieben werden (allgemeiner Sexismus), bewegen sich hin zu mehr Egalitarismus, während die Einstellungen zur Erreichung der Gleichstellung (moderner Sexismus) stabil bleiben. Teilweise lässt sich dieser Unterschied dadurch erklären, dass Frauen vermehrt auf dem Arbeitsmarkt präsent sind (BFS, 2019a) – was zu einer grösseren Akzeptanz der Erwerbsarbeit von Frauen und Müttern führt –, während sich gleichzeitig der politische Diskurs über die Gleichstellung der Geschlechter gewandelt hat. Der in den Jahren 1996 bis 2001 vorherrschende Diskurs erkannte die Diskriminierung von Frauen an und zielte darauf ab, durch staatliche Massnahmen Abhilfe zu schaffen. Gemäss den im Zeitraum 2001 bis 2011 vorherrschenden Ansichten wurde die Geschlechtergleichstellung indessen nicht als Sache des Staates erachtet, was sich hauptsächlich in flexiblen und freiwilligen Massnahmen für Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sowie in begrenzten Fortschritten bei der Verringerung der Ungleichheiten niederschlug (Lanfranconi & Valarino, 2014).

Zweitens zeigen unsere Ergebnisse, dass trotz zunehmender Unterstützung die Beschäftigung von Frauen befürwortet wird, solange kein Kind (im Vorschulalter) im Haushalt lebt. Dies zeigt auf, dass in der Schweizer Gesellschaft ein traditionelles Rollenbild der Frau fortbesteht, sobald sie Mutter geworden ist, und dass Frauen vorrangig dem privaten Bereich zugeordnet werden (Krüger & Levy, 2001). Unseren Ergebnissen zufolge entspricht das in der Schweiz vorherrschende Kulturmodell jenem der «Familiengleichheit» (Knight & Brinton, 2017) und folglich ein Modell, das den Grundsatz der Gleichstellung von Frauen und Männern unterstützt und gleichzeitig für die traditionelle Mutterrolle in der Familie eintritt. Die Laufbahnunterbrechung von Frauen steht nicht mehr explizit im Dienste der männlichen Karriere, sondern wird als Notwendigkeit für das Wohlbefinden der Kinder erachtet (Cotter et al., 2011). Allgemein dürfte diesbezüglich die Aussage bekannt sein: «Wer Kinder in die Welt setzt, sollte sich auch um sie kümmern!» Die Kindererziehung bleibt aber vor allem Frauensache. Welche Rolle sollte der Vater für das Wohl der Kinder übernehmen? Welche Einstellungen herrschen zu den sozialen Rollen von Männern und Vätern vor? Diese Fragen lassen sich anhand des Schweizer Haushalts-Panels nicht beantworten. Die Abstimmung zum Vaterschaftsurlaub im Jahr 2020 deutet jedoch darauf hin, dass ein starkes Engagement der Väter im privaten Bereich gesellschaftlich akzeptiert wird.

Drittens weisen unsere Ergebnisse auf die unterschiedlichen Einstellungen der Millennials und der früheren Generationen zur Erreichung der Gleichstellung hin: Jüngere Menschen vertreten zunehmend die Meinung, dass die Diskriminierung von Frauen in der Schweiz kein Problem mehr darstelle. Daher stossen die Massnahmen zur Frauenförderung in dieser Generation auf weniger Gegenliebe. Eine mögliche Erklärung wäre, dass die Millennials der Ansicht sind, dass die Gleichberechtigung bereits erreicht ist. De facto wurden schliesslich einige symbolische Aspekte der Gleichberechtigung verwirklicht, wie das Wahlrecht und der Zugang zu Bildung und Berufswelt. Diese sichtbaren Verbesserungen können die Illusion von Wahlfreiheit, Chancengleichheit und Gleichbehandlung vermitteln. Zudem nehmen Millennials, die im Jahr 2000 zwischen 18 und 20 Jahre und im Jahr 2017 zwischen 18 und 37 Jahre alt waren, die Diskriminierung unter Umständen weniger wahr, da noch nicht alle in den Arbeitsmarkt eingetreten sind und, noch wichtiger, noch nicht Eltern geworden sind – eine Phase, in der sich weibliche und männliche Lebensläufe tendenziell differenzieren (Levy & Le Goff, 2016). Millennials könnten auch der Ansicht sein, dass die verbleibenden Ungleichheiten auf die Frauen und nicht etwa auf das System zurückzuführen sind oder dass diese Ungleichheiten aufgrund natürlicher Unterschiede gerechtfertigt sind, was sexistischeren Positionen gleichkommt. Im Rahmen des egalitären Familienmodells werden bestimmte Ungleichheiten gegebenenfalls auch als normale Folge der traditionellen Mutterrolle gesehen. In jedem Fall wirft es Fragen auf, dass jüngere Menschen weniger geneigt sind, auf bestehende Ungleichheiten hinzuweisen. Dies könnte zu einem Desinteresse an Gleichstellungsfragen und damit zur Aufrechterhaltung des Status quo führen (Ellemers & Barreto, 2009).

Viertens zeigen unsere Ergebnisse einen Kreislaufeffekt, der zwischen Einstellungen und Erwerbsarbeit existiert: Die Einstellungen spielen bei der Wahl des Beschäftigungsgrads von Frauen und Männern eine Rolle (Selektionseffekt) und entwickeln sich entsprechend diesem Grad unterschiedlich (Anpassungseffekt). Unsere Ergebnisse bestätigen, dass Frauen mit einem hohen Beschäftigungsgrad egalitärer eingestellt sind. Allerdings stehen Frauen, die Vollzeit arbeiten, der Erwerbsarbeit von Müttern weniger positiv gegenüber als Frauen, die einer Teilzeitarbeit mit hohem Beschäftigungsgrad nachgehen. An diesem Ergebnis lässt sich der starke Einfluss des egalitären Familienmodells ablesen: Obwohl diese Frauen das empfohlene Modell ablehnen, haben sie sich daran angepasst.

Um eine egalitärere Gesellschaft zu schaffen, die grössere Wahlfreiheit frei von Geschlechterstereotypen bietet, erscheint es wichtig, die Bevölkerung – insbesondere die Jüngeren – für die in der Schweiz bestehenden Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern zu sensibilisieren. Dies könnte den modernen Sexismus reduzieren und eine Rückkehr zu sexistischeren Einstellungen, wie sie in anderen Ländern zu beobachten ist, verhindern. Eine Informationskampagne zu den verschiedenen Formen von Sexismus und Diskriminierung könnte ein Anfang sein. Auch Massnahmen, die Frauen und Müttern einen hohen Beschäftigungsgrad und Männern und Vätern eine Teilzeitarbeit ermöglichen, sind zu stärken, um somit nicht nur die Akzeptanz nicht-geschlechtsbezogener sozialer Rollen zu fördern und damit den allgemeinen Sexismus abzubauen, sondern auch, um Ungleichheiten zu reduzieren. Zwei Massnahmen, die vorrangig unterstützt werden sollten, sind ein Elternurlaub, der von beiden Elternteilen gleichermassen in Anspruch genommen werden kann, und der garantierte Zugang zu erschwinglicher Kinderbetreuung für alle, sobald dieser Elternurlaub endet.

 

 

[1] Alle unsere Ergebnisse werden durch weitere statistische Analysen bestätigt (siehe Bornatici et al., 2020). In Robustheitstests wurde nachgewiesen, dass die Attrition im Panel – ein kontinuierlicher und selektiver Verlust von Umfrageteilnehmenden über die Jahre hinweg – unsere Ergebnisse nicht beeinträchtigt.

[2] Frauen sind in jeder der vier Kategorien gleichmässig vertreten (ca. 25 %).

[3] In unserer Stichprobe sind 75 % der Männer in Vollzeit tätig, 12 % sind ohne Erwerbsarbeit, 8 % arbeiten in Teilzeit mit einem Beschäftigungsgrad von 50-90 % und 4 Prozent arbeiten in Teilzeit mit einem Beschäftigungsgrad von unter 50 %.

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