Die Entwicklung von Stress in der Schweiz – die erste Welle der Pandemie verschafft gestressten Menschen eine Pause
Klaas, H. S., Kuhn U., Refle, J.-E., Voorpostel, M., Ryser V.-A., Dasoki, N., & Tillmann, R. (2021). Die Entwicklung von Stress in der Schweiz – die erste Welle der Pandemie verschafft gestressten Menschen eine Pause. Social Change in Switzerland, N°26. doi: 10.22019/SC-2021-00004
© the authors 2021. This work is licensed under a Creative Commons Attribution 4.0 International License (CC BY 4.0)
Zusammenfassung
Unsere auf dem Schweizer Haushalt-Panel beruhende Studie kommt zu dem Ergebnis, dass der von der Bevölkerung erlebte Stress zwischen 2016 und 2019 zugenommen hat. Der Mini-Lockdown im Frühjahr 2020 hat zwar zu einem Rückgang des Stresspegels um 10 % geführt, dies war aber nur vorübergehend. Vor und während der Pandemie fühlten sich vor allem Personen gestresst, die finanzielle Schwierigkeiten hatten und sich in prekären Arbeitsverhältnissen befanden. Für einige Gruppen bedeutete die erste Welle der Pandemie hingegen weniger Stress. Dazu gehören insbesondere Menschen mit Hochschulabschluss, hohem Einkommen, intensivem Arbeitsrhythmus oder einer Arbeit mit Entscheidungsbefugnis. Der Mini-Lockdown im Frühjahr 2020 hatte also positive Aspekte für diejenigen, deren Berufs- und Privatleben sich verlangsamt hat oder die dank dem Arbeiten von zu Hause aus an Flexibilität gewonnen haben und die sich gleichzeitig eine gewisse wirtschaftliche Sicherheit bewahren konnten.
Copyright
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Einleitung
Im letzten Jahrzehnt ist der Anstieg von Stress in der Schweiz immer mehr zu einem Thema für das Gesundheitssystem und die Wirtschaft geworden. Erhöhter Stress begünstigt viele körperliche chronische Gesundheitsprobleme, wie kardiovaskuläre Erkrankungen und Übergewicht, sowie psychische Erkrankungen wie Depression und Burnout (Thoits, 2010). Ausserdem entwickeln Menschen, die sich oft gestresst fühlen, eher Verhaltensweisen, die ihrer Gesundheit schaden können: Sie ernähren sich eher ungesund und nehmen öfter Alkohol oder Drogen zu sich. Neben den negativen Auswirkungen von Stress auf das Wohlbefinden der Menschen und den damit verbundenen Kosten für das Gesundheitssystem senkt ein erhöhter Stresspegel die Produktivität am Arbeitsplatz. Stressbedingte Krankheiten wirken sich in vielerlei Hinsicht negativ aus: Sie führen zu Fehltagen, einer geringeren Arbeitsquote, vorzeitigem Ruhestand oder «Präsentismus», das heisst, es wird zwar gearbeitet, aber mit geringerer Produktivität (BAG, 2020).
Was ist Stress und ab wann wird er gefährlich? Menschen fühlen sich in der Regel gestresst, wenn sie den Eindruck haben, nicht über ausreichend Ressourcen zu verfügen, um die Anforderungen ihres Umfelds zu erfüllen. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn sie Mühe haben, den beruflichen oder familiären Erwartungen gerecht zu werden, oder in Phasen von Veränderungen oder Ungewissheit (Bruchon-Schweitzer & Boujut, 2014). Grundsätzlich kann das Gefühl von Stress einen stimulierenden Effekt auf den Organismus haben und ist für diesen kurzfristig auch erforderlich, zum Beispiel um das Immunsystem zu aktivieren, bei sportlicher Betätigung oder beim Lernen. Stress kann also als etwas Normales und Positives wahrgenommen werden. Kommt der Stress hingegen häufig vor und dauert über längere Zeit an, führt er zu Erschöpfung und ist problematisch.
Um dieses Phänomen besser verstehen zu können, haben wir zunächst die Entwicklung des Stresspegels in der Schweiz über mehrere Jahre hinweg untersucht und ebenso die Faktoren analysiert, die einen Anstieg oder eine Abnahme von Stress begünstigen. In einem zweiten Schritt haben wir uns mit den Auswirkungen der Pandemie auf den Stresspegel beschäftigt. In diesem Artikel werden die folgenden drei Fragen behandelt: Nimmt der Stress zu? Welche Faktoren beeinflussen den Stresspegel? Wie hat die erste Pandemiewelle den erlebten Stress beeinflusst und handelt es sich dabei um einen vorübergehenden Effekt?
Faktoren die Stress beeinflussen
Diverse Schweizer Erhebungen haben gezeigt, dass der arbeitsbedingte Stress in den letzten zwei Jahrzehnten gestiegen ist (SECO, 2020; Gesundheitsförderung Schweiz, 2020). Laut dem Job-Stress-Index, für den seit 2014 Erwerbstätige befragt werden, geben ein Drittel der Befragten an, dass sie nicht über ausreichend Ressourcen für ihre beruflichen Anforderungen verfügen, mit steigender Tendenz. Eine erhebliche Einschränkung bei dieser Art von Erhebungen besteht darin, dass sie sich im Wesentlichen auf den Arbeitsstress konzentrieren und andere Stressquellen, z. B. im Zusammenhang mit Bildung, der finanziellen oder familiären Situation oder anderen persönlichen Beziehungen, vernachlässigen. Hinzu kommt, dass in diesen Erhebungen nicht dieselben Personen über längere Zeit hinweg befragt werden, um die Faktoren zu ermitteln, die zu einem Anstieg oder einer Abnahme von Stress beitragen. Um diese Lücke zu füllen, ziehen wir zur Analyse die Daten des Schweizer Haushalt-Panels heran, bei dem regelmässig dieselben Personen befragt und seit 2016 Informationen zum erlebten Stress erhoben werden.
Der Stress und seine Folgen verteilen sich entlang eines sozialen Gradienten, was bedeutet, dass die Bevölkerungsgruppen Stress unterschiedlich intensiv ausgesetzt sind (Thoits, 2010). Der Zusammenhang zwischen Stress und sozialem Status weist jedoch in zwei Richtungen. Einerseits gibt es die Tendenz, dass Menschen mit höherer wirtschaftlicher Unsicherheit, zum Beispiel durch ein prekäres Arbeitsverhältnis oder finanzielle Probleme, mehr unter Stress leiden. Aus diesem Grund ist zu erwarten, dass Personen, deren Bildung nicht über die obligatorische Schule hinausgeht oder die einkommensschwach sind, vermehrt von Stress betroffen sind. Andererseits besteht ein Zusammenhang zwischen Stress und der Arbeitsbelastung, die oft für Stellen mit mehr Verantwortung höher ausfällt und lange Arbeitstage impliziert (SECO, 2010). Das würde bedeuten, dass Menschen mit Hochschulstudium, höherem Einkommen oder in Führungspositionen gestresster sind. Stress und Burnout wurden als «typische» Erkrankungen von Menschen mit hohem Bildungsniveau festgestellt, während Menschen mit niedrigerem Bildungsniveau und Berufsstatus häufiger über Gesundheitsprobleme und körperliche Beschwerden klagen (Hämmig & Bauer, 2013).
Frühere Studien haben zudem die Auswirkungen von Geschlecht und Alter deutlich gemacht. Frauen berichten von einem höheren Stresspegel als Männer. Für sie ist es schwieriger, bezahlte und unbezahlte Arbeit miteinander in Einklang zu bringen, da sie zum grossen Teil die Verantwortung für die Hausarbeit und die Organisation des Familienlebens tragen. Aus diesem Grund verrichten sie letztlich mehr Arbeitsstunden als Männer (Ruppaner, Perarles & Baxter, 2019). Ein weiteres oft beobachtetes Phänomen ist der Rückgang des Stresses mit zunehmendem Alter. Mit erhöhtem Stress werden typischerweise bestimmte Phasen im Lebensverlauf verknüpft: Einstieg in das Berufsleben, Anhäufung beruflicher und familiärer Belastungen in der Mitte des Lebens und der Übergang in den Ruhestand (Pearlin & Skaff, 1996).
Grundsätzlich ist mit unterschiedlichen Auswirkungen der Pandemie auf den Stresspegel zu rechnen. Einerseits könnte eine Verringerung des Einkommens, eine grössere Unsicherheit in Bezug auf den Arbeitsplatz, die Schliessung von Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen oder Ängste im Zusammenhang mit dem Ansteckungsrisiko den Stress erhöhen. Andererseits könnte die Verlangsamung des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens zu einer Reduktion von Stress führen, da sich die Arbeitsstunden verringern oder die Arbeit flexibler wird oder auch weil der Ausfall zahlreicher Aktivitäten den Zeitdruck verringert und die für Angehörige, Freunde oder Freizeit zur Verfügung stehende Zeit zugenommen hat.
Entwicklung des Stresspegels zwischen 2016 und 2020
Unsere Analyse basiert auf den Daten des Schweizer Haushalt-Panels (SHP) (Tillmann et al. 2016). In dieser Studie werden seit 1999 aus einer Stichprobe von privaten Haushalten in der Schweiz alle Haushaltsmitglieder im Alter von mindestens 14 Jahren regelmässig befragt. Eine zusätzliche Erhebung wurde zwischen Mai und Juni 2020, nach der ersten COVID-19-Welle, durchgeführt (für eine detaillierte Beschreibung siehe Refle et al., 2020 sowie Kuhn et al., 2020).
In diesem Artikel berücksichtigen wir ausschliesslich Personen, die mindestens 18 Jahre alt sind. Der Stress wird seit 2016 anhand der Frage gemessen, wie häufig in den vier Wochen vor der Befragung ein Gefühl von Stress erlebt wurde. Die Skala geht dabei von 1 «nie» bis 5 «sehr oft». Die Analysen für die Jahre 2016-2019 stützen sich auf die Antworten von 11500 Personen. Die COVID-19-Befragung im Mai/Juni 2020 stützt sich auf eine Stichprobe von 5598 Personen, von denen 5462 auch an der jährlichen Befragung Ende 2020/Anfang 2021 teilgenommen haben. Die Analyse der Einflussfaktoren auf Stress basieren auf dem Modell einer multiplen linearen Regression, bei dem unterschiedliche soziodemografische und wirtschaftliche Faktoren berücksichtigt werden und das die Bestimmung des Nettoeinflusses eines bestimmten Merkmals ermöglicht. Für die grafischen Darstellungen wurden zum Ausgleich eventueller Verzerrungen nur methodische Variablen (Erhebungsweise und Gewichtung) berücksichtigt.
Abbildung 1 stellt die Entwicklung von Stress zwischen 2016 und Ende 2020/Anfang 2021 dar. In den fünf untersuchten Jahren erklärte etwa die Hälfte der in der Schweiz lebenden Bevölkerung, dass sie nie oder selten gestresst sei. Der Anteil der Personen, die angaben, sich oft oder sehr oft gestresst zu fühlen, ist zwischen 2016 und 2019 von 20 % auf 24 % leicht angestiegen, ist aber – zu unserer Überraschung – im Frühjahr 2020 auf 14 % gefallen. Mit Beginn der Pandemie ist der Anteil der oft gestressten Personen folglich um 10 Prozentpunkte gesunken. Wenn wir jedoch die Daten der Haushalte analysieren, die an den Erhebungen im Zeitraum der ersten Pandemie-Welle bis Ende 2020/Anfang 2021 teilgenommen haben, können wir sehen, dass der Anteil der Personen, die erklären, sich oft oder sehr oft gestresst zu fühlen, wieder gestiegen ist und sich auf ein ähnliches Niveau wie vor der Pandemie eingependelt hat.
Abbildung 1: Entwicklung des Stresspegels zwischen 2016-2020
Quelle: Schweizer Haushalt-Panel
2016: N = 9502, 2017: N = 9041, 2018: N = 8897, 2019: N = 8437; Mai/Juni 2020: N = 5598; Ende 2020: N = 5462
Wir können also zwei Tendenzen feststellen: Einen Anstieg, gefolgt von einer vorübergehenden Abnahme von Stress. Welche Faktoren erhöhen den Stress? Menschen, die einer wirtschaftlichen Unsicherheit ausgesetzt sind (z.B. aufgrund von Arbeitslosigkeit, Inaktivität oder Ausbildung), waren vor und während der Pandemie gestresster. Ein unsicherer Arbeitsplatz oder ein befristeter Arbeitsvertrag stehen ebenfalls in Verbindung mit mehr Stress. Ausserdem empfinden Personen mehr Stress, wenn sich ihre finanzielle Situation verschlechtert, wenn ihr Haushalt auf die Ersparnisse zurückgreifen oder gar Schulden aufnehmen muss. Änderungen in der wirtschaftlichen Situation von Menschen stellen daher einen wichtigen Faktor dar, um den Anstieg oder die Abnahme des Stresspegels von einem Jahr zum nächsten zu erklären.
Auswirkungen von Bildung, Geschlecht und Alter auf Stress
In Abbildung 2 ist der Zusammenhang zwischen Stress und Bildungsstand dargestellt. Vor der Pandemie fühlten sich Menschen mit Hochschulabschluss mehr gestresst als jene, die die obligatorische Schule absolviert haben. Unsere Analysen können erklären, warum Menschen mit höherer Bildung und höherem Einkommen gestresster sind. Sie arbeiten oft länger und haben grössere Schwierigkeiten mit der Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben. Zudem haben sie häufiger Arbeitsstellen mit Entscheidungsbefugnissen und einem intensiven Arbeitsrhythmus, was ebenfalls den Stresspegel anhebt.
Abbildung 2: Stresspegel nach Bildungsstand vor und während der Pandemie (Frühjahr 2020)
Quelle: Schweizer Haushalt-Panel; N = 5598; Stresspegel: 1 «nie» bis 5 «sehr oft»
Die Auswirkungen der Pandemie auf den Stress hängen vom Bildungsstand ab (siehe Abbildung 2). Menschen mit Hochschulbildung konnten ihren Stresspegel senken, während der Stress von Menschen mit obligatorischem Schulabschluss sich nicht verändert hat. Dies lässt sich zum Teil mit dem deutlichen Anstieg der Telearbeit während der Pandemie erklären, die 71 % der Menschen mit Hochschulabschluss betraf, aber nur 26 % der Menschen mit obligatorischem Schulabschluss (Refle et al., 2020). Unsere Analysen haben ausserdem ergeben, dass Personen mit hohem Bildungsstand während der Pandemie Arbeit und Familie besser vereinbaren konnten.
Des Weiteren haben wir festgestellt, dass der Stress in Haushalten mit höherem Einkommen ebenfalls zurückgegangen ist, genauso wie bei Personen, deren finanzielle Situation sich aufgrund der Pandemie nicht verschlechtert hat. Auch bei Menschen, die am Arbeitsplatz über Entscheidungsbefugnisse verfügen, nahm der Stress ab. Dies scheint mit der Möglichkeit zusammenzuhängen, bei der Arbeitsorganisation und der Zeitplanung eigene Entscheidungen treffen zu können. Dieselbe Tendenz lässt sich bei Personen beobachten, die berichten, dass sie einem intensiven Arbeitsrhythmus unterliegen. Während der Pandemie senkte sich ihr Stresspegel im Vergleich zu vor der Pandemie. Bei Personen, die hingegen einen weniger intensiven Arbeitsrhythmus hatten, wirkte sich die Pandemie nicht auf den erlebten Stress aus.
In Bezug auf das Geschlecht zeigen die Ergebnisse, dass Frauen sich gestresster fühlen als Männer (siehe Abbildung 3). Auch wenn man Lebensbedingungen wie die berufliche oder familiäre Situation berücksichtigt, liegt der Stresspegel von Frauen 11 % über dem von Männern. Unsere Analysen zeigen, dass sich diese Differenz während der Pandemie weder vergrössert noch verringert hat. Auch wenn die Ergebnisse veranschaulichen, dass Männer ihren Stresspegel stärker gesenkt haben (siehe Abbildung 3, rechts), stellt sich diese Differenz in unseren Analysen als unwesentlich heraus.
Abbildung 3: Stresspegel nach Geschlecht vor und während der Pandemie (Frühjahr 2020)
Quelle: Schweizer Haushalt-Panel; N = 5598; Stresspegel: 1 «nie» bis 5 «sehr oft»
Diese Beobachtung steht im Einklang mit Ergebnissen aus der wissenschaftlichen Forschung, die zeigen, dass Frauen eine schlechtere psychische Gesundheit aufweisen als Männer (Schuler et al. 2020). Die Gründe dafür sind in einer grösseren Arbeitsbelastung der Frauen zu suchen, welche die Organisation des Familienlebens, häusliche Aufgaben und ihre Erwerbstätigkeit zu bewältigen haben und somit über weniger Freizeit verfügen. Darüber hinaus haben Frauen oft Berufe mit hoher körperlicher und emotionaler Belastung, zum Beispiel im Gesundheitswesen.
Im Hinblick auf die Auswirkungen des Alters auf Stress ist festzustellen, dass man sich im Laufe der Jahre weniger gestresst fühlt. Wie dem linken Teil von Abbildung 4 zu entnehmen ist, fühlen sich junge Erwachsene gestresster als Personen in der Mitte ihres Berufslebens (36-55 Jahre). Diese Tendenz ist dieselbe vor (dunkelblau) wie während (hellblau) der Pandemie. Ein möglicher Grund hierfür ist eine grössere Beschäftigung mit der Planung und Entscheidung über ihre berufliche Karriere (Gesundheitsförderung Schweiz, 2020). Junge Menschen berichten auch vermehrt von einer Intensivierung des Arbeitsrhythmus. Für die Zeit der Pandemie ist in allen Altersgruppen unterhalb von 65 Jahren eine Verringerung von Stress festzustellen (siehe Abbildung 4, rechts). Bei älteren Personen hat der Stress hingegen leicht zugenommen. Dies hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass sie als Risikogruppe eingestuft wurden und dass sich einige von ihnen stigmatisiert gefühlt haben. Es ist darauf hinzuweisen, dass jüngere Menschen, auch wenn ihr Stressniveau während der Pandemie nachgelassen hat, die einzige Altersgruppe sind, deren Lebenszufriedenheit gesunken ist (Kuhn et al., 2020).
Abbildung 4: Stresspegel nach Altersgruppen vor und während der Pandemie (Frühjahr 2020)
Quelle: Schweizer Haushalt-Panel; N = 5598; Stresspegel: 1 «nie» bis 5 «sehr oft»
Schlussfolgerungen
Dank unserer, mit den Daten des Schweizer Haushalt-Panels durchgeführten, Analysen kann die Entwicklung und Verteilung von erlebtem Stress in der Schweiz besser nachvollzogen werden.
Für den Zeitraum 2016-2019 stellen wir einen leichten Anstieg des Stresspegels fest. Drei Aspekte machen deutlich, warum manche Menschen gestresster sind als andere: Erstens erhöht wirtschaftliche Unsicherheit den Stress. Menschen, die ein niedriges Einkommen haben oder deren finanzielle Lage sich verschlechtert, sich in Ausbildung befindende Personen und Arbeitslose bzw. Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen leiden unter mehr Stress. Zweitens erhöhen die Arbeitsbelastung und die berufliche Verantwortung den Stress, auch wenn sich die Betroffenen in keiner prekären wirtschaftlichen Lage befinden. Menschen mit hohem Bildungsstand, hohem Haushaltseinkommen, vielen Arbeitsstunden, einem intensiven Arbeitsrhythmus oder die in ihrem Beruf Jahr für Jahr mehr Entscheidungsbefugnisse übernehmen, fühlen sich stärker gestresst. Diese Kategorie von Personen berichtet häufiger von Schwierigkeiten bei der Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben, die wiederum stark mit erlebtem Stress in Zusammenhang stehen. Drittens zeigt unsere Analyse, dass junge Erwachsene und Frauen sich im Allgemeinen gestresster fühlen.
Die erste Welle der COVID-19-Pandemie hat jedoch nicht nur Verlierer hervorgebracht. Der Anteil der gestressten Personen ist in der Schweiz kurzfristig von 24 % auf 14 % gesunken, was eine erhebliche Abnahme darstellt. Der erste Mini-Lockdown scheint Personen mit Hochschulabschluss, hohem Einkommen, intensivem Arbeitsrhythmus oder Entscheidungsbefugnissen auf ihrer Arbeitsstelle begünstigt zu haben. Gewinner waren jene, die von einer grösseren Flexibilität bei der Organisation ihrer Arbeit, zum Beispiel durch das Arbeiten von zu Hause aus, profitieren konnten und die über grössere wirtschaftliche und finanzielle Ressourcen zur Anpassung an die Situation verfügten und somit Arbeit und Privatleben einfacher in Einklang bringen konnten. Der Stress wurde vor allem in den Gruppen geringer, deren Berufsleben sich verlangsamte und deren Einkommen gleichzeitig gesichert war.
Ende 2020 stieg das Stressniveau hingegen wieder an. Eine erste Erklärung hierfür ist der aussergewöhnliche Charakter des ersten Mini-Lockdowns, der eine Verlangsamung der Aktivitäten nach sich zog und somit den Stress für einen Teil der Bevölkerung verringerte. Danach haben sich die Aktivitäten wieder beschleunigt oder die Menschen haben sich an einen weniger intensiven Arbeitsrhythmus gewöhnt. In der Psychologie ist dieser Anpassungseffekt längst bekannt. Er hat zur Folge, dass die Menschen nach einem Ereignis wie dem Mini-Lockdown zeitnah wieder so viel Stress empfinden wie davor. In der Tat scheinen sich Menschen schneller an positive Folgen eines Ereignisses (in diesem Fall die Verlangsamung des Lebensrhythmus) zu gewöhnen als an negative (Luhmann et al., 2012).
Die Pandemie scheint folglich die Dynamik von Stress nicht verändert zu haben. Eine hohe Arbeitsbelastung, wirtschaftliche Unsicherheit, Schwierigkeiten mit der Vereinbarkeit von Privat- und Berufsleben – dies alles sind Faktoren, die in Bezug auf Stress ein hohes Risiko darstellen. Soweit sich externe Arbeitsbedingungen während der ersten Welle der Pandemie geändert haben, konnten einige Gruppen ihre berufliche und psychologische Belastung und damit die Stressfaktoren verringern. Sofern die finanzielle Sicherheit nicht gefährdet war, scheinen grössere Flexibilität und die Möglichkeit zur Vereinbarung von Privat- und Berufsleben ein entscheidender Vorteil in der Erfahrung mit der Pandemie gewesen zu sein. Es bleibt abzuwarten, wie dieser Vorteil in die Zeit nach der Pandemie übertragen werden kann.
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