Ungleiche Lebenserwartungen bei guter Gesundheit in der Schweiz seit 1990

N°31, Oktober 2022
Adrien Remund (Universität Groningen) Niederlande, Stéphane Cullati (Universität Freiburg & Universität Genf),

October 24, 2022
How to cite this article:

Remund A. & Cullati S. (2022). Ungleiche Lebenserwartungen bei guter Gesundheit in der Schweiz seit 1990. Social Change in Switzerland, N°31. doi: 10.22019/SC-2022-00006

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Zusammenfassung

Die meisten Länder mit hohem Einkommen, wie die Schweiz, verzeichnen einen Anstieg der Lebenserwartung. Es stellt sich jedoch die Frage, ob dieser Zugewinn für alle gleich ausfällt und ob er ein längeres Leben bei guter Gesundheit für alle bedeutet. Unter Verwendung von Daten der Schweizer Nationalen Kohorte und der Schweizerischen Gesundheitsbefragung zeigt diese Studie, dass Frauen und Männer im Zeitraum von 1990 bis 2014 drei bzw. fünf Jahre mehr Gesamtlebenszeit und etwa gleich viel Zeit bei guter Gesundheit verzeichnen. Der Gewinn an Lebenserwartung bei guter Gesundheit ist jedoch je nach Bildungsniveau unterschiedlich. Er stagniert bei Personen mit niedrigem Bildungsniveau (obligatorische Schulzeit) und steigt bei Personen mit Hochschulausbildung schneller als die Lebenserwartung insgesamt. Diese Resultate zeigen, dass der gesundheitliche Fortschritt in der Schweiz ungleich verteilt ist.


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Einleitung

Die Lebenserwartung ergibt sich aus der menschlichen Biologie, den Lebensbedingungen, den Verhaltensweisen der Menschen und dem Gesundheitssystem des Landes, in dem die Menschen leben. In den meisten Ländern mit hohem Einkommen ist die Lebenserwartung bei der Geburt in den letzten 150 Jahren stetig gestiegen, zunächst aufgrund des Rückgangs der Kinder- und Jugendsterblichkeit und aufgrund von Überlebensgewinnen in späteren Lebensjahren. Seit den späten 1970er Jahren wirft die längere Überlebenszeit älterer Menschen die Frage nach der Qualität dieser zusätzlichen Lebensjahre auf: Werden sie bei guter Gesundheit verbracht oder handelt es sich um zusätzliche Lebensjahre bei schlechter Gesundheit?

Die Lebenserwartung misst die Anzahl der Jahre, die ein neugeborener Mensch im Durchschnitt voraussichtlich leben wird, wenn die in einem Jahr verzeichneten Mortalitätsbedingungen im Laufe seines Lebens konstant bleiben. Damit ist sie also eher eine Messung des aktuellen Mortalitätsniveaus als ein Instrument zur Vorhersage. Sie wird auf der Grundlage, der über das Jahr gemessenen altersspezifischen Mortalitätsraten berechnet, die mit einem Mass für die Prävalenz guter Gesundheit kombiniert werden können, um die Lebenserwartung bei guter Gesundheit zu erhalten.

Vor dem Hintergrund einer hohen Lebenserwartung wurden drei Hypothesen über die Entwicklung der Lebenserwartung bei guter Gesundheit aufgestellt (siehe Abbildung 1). Bei der ersten Annahme würde der Anstieg der Lebenserwartung irgendwann eine Obergrenze erreichen, aber der Eintritt in einen Krankheitszustand könnte sich verzögern, was die in schlechter Gesundheit verbrachten Jahre verringern würde (Fries, 1980). Mit anderen Worten: Die Lebenserwartung wird nicht unbegrenzt steigen können, aber die Gesellschaften und ihre Gesundheitssysteme werden in der Lage sein, die Lebenserwartung bei guter Gesundheit bis zu ihrem Maximum zu steigern. Diese als «Kompression der Morbidität» bezeichnete Hypothese wurde durch Studien gestützt, die einen Rückgang der Invalidität bei älteren Menschen in Ländern wie Dänemark, Finnland, Italien, den Niederlanden und den USA (Lafortune, 2007) und zuletzt auch in England, Griechenland, Korea, Polen und Schweden (Lee et al., 2020) dokumentieren. Die gleichen Studien zeigen jedoch, dass das Phänomen nicht universell ist, da es sich insbesondere in Belgien, der Tschechischen Republik und Mexiko nicht beobachten lässt.

Eine zweite Hypothese, die die Gegenhypothese dazu darstellt, wird als «Expansion der Morbidität» bezeichnet. Sie postuliert, dass die Gesellschaften und ihre Gesundheitssysteme es nicht vermeiden werden können, den «Preis» für den Erfolg der erhöhten Lebenserwartung zu zahlen, nämlich die Verlängerung des Lebens von Menschen bei schlechter Gesundheit (Gruenberg, 1977). Studien in den USA stützen diese Hypothese, indem sie eine Stagnation des Alters zu Beginn der Gesundheitsverschlechterung und eine Zunahme von Krankheiten und Verlusten an funktioneller Mobilität beobachteten (Crimmins & Beltrán-Sánchez, 2010). Abgesehen vom Sonderfall der USA und ihrer sehr ungleichen Gesellschaft wurde diese zweite Hypothese auf internationaler Ebene bestätigt: Zwischen 1990 und 2010 gingen in den meisten Ländern die Zugewinne bei der Lebenserwartung mit einem Anstieg der Lebensjahre in schlechter Gesundheit einher (Salomon et al., 2012). Laut dieser Studie werden jedoch etwa 85 % der zusätzlich gelebten Jahre bei guter Gesundheit und nur 15 % bei schlechter Gesundheit verbracht. Die Verbesserung der Gesundheit würde demzufolge annähernd mit dem Anstieg der Gesamtlebenserwartung Schritt halten. Die Expansion der Morbidität lässt sich durch die Fortschritte der Medizin erklären, die immer mehr Krankheiten besser behandeln und wirksam betreuen kann, sowie durch die Entwicklung der Primär- und Sekundärpräventionen (z. B. Impfungen, Vorsorgeuntersuchungen für bestimmte Krebserkrankungen), welche die Mortalität in Verbindung mit chronischen Krankheiten senken. In einigen Fällen führt sie aber auch zu einer Erhöhung der Inzidenz und trägt so potenziell zur Lebenszeit bei schlechter Gesundheit bei.

Eine dritte Hypothese besagt, dass die Zugewinne bei der Lebenserwartung untrennbar mit den Zugewinnen bei der Gesundheit verbunden sind (Manton, 1982). Fortschritte, die das Sterberisiko senken, sorgen gleichzeitig bei Krankheiten für weniger schwere Stadien und führen so zu einem «dynamischen Gleichgewicht». Manton hebt dabei vor allem die Fortschritte im Gesundheitsverhalten hervor (z. B. gesunkene Anzahl der Raucher/innen) und eine Zunahme der Freizeit, die möglicherweise zur Senkung der Mortalität aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen beigetragen haben. Infolgedessen entwickelten sich die Gesamtlebenserwartung und die Lebenserwartung bei guter Gesundheit parallel zueinander. Den empirischen Nachweis für diese Hypothese zu erbringen ist schwierig, da sie auf der Definition einer notwendigerweise willkürlichen Marge beruht, innerhalb derer die Entwicklung der in schlechter Gesundheit verbrachten Jahre als konstant erachtet wird. Einige sahen jedoch eine empirische Unterstützung diese Hypothese darin, dass die Ausbreitung chronischer Krankheiten nicht zu einem Anstieg der Prävalenz von Behinderungen führt (Hossin et al., 2017).

Abbildung 1: Drei Hypothesen über die Entwicklung der Lebenserwartung bei guter Gesundheit

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Während diese drei Hypothesen auf nationaler und internationaler Ebene ausgiebig getestet wurden, hat ihre Anwendung auf wirtschaftliche Untergruppen der Allgemeinbevölkerung wenig Aufmerksamkeit erhalten. Die Benachteiligung der unteren Gesellschaftsschichten in Bezug auf die Gesamtlebenserwartung und die Lebenserwartung bei guter Gesundheit ist erwiesen. Die Dynamik dieser kombinierten Ungleichheiten bei Morbidität und Gesundheit ist jedoch noch unerforscht.

Die Schweiz ist ein idealer Fall für die Untersuchung dieser Prozesse, da sie in den letzten Jahrzehnten einen sehr schnellen Anstieg der Lebenserwartung erlebt hat: Sie hält derzeit sogar den Weltrekord für die Lebenserwartung von Männern. Sie kann als Beispiel dafür dienen, wie sich die Erkrankungsraten mit steigender Lebenserwartung verändern. Abgesehen davon, gehört der Lebensstandard in der Schweiz zu den höchsten der Welt. Das Schweizer Gesundheitssystem ist universell mit einer allgemeinen Krankenversicherungsdeckung: Jede in der Schweiz wohnansässige Person muss bei einer Krankenkasse versichert sein, und die Deckung der Pflege ist unabhängig vom Wohnort oder der Krankenkasse identisch. Das Schweizer Gesundheitssystem ist effizient bei der Behandlung akuter Krankheiten, aber wenig leistungsstark im Bereich der Prävention (De Pietro et al., 2015). Das schweizerische System verlangt von den Haushalten einen sehr hohen finanziellen Beitrag zu den Gesundheitskosten, was eine potenzielle Quelle für soziale Ungleichheiten im Gesundheitsbereich darstellt. Es stellt sich also die Frage, ob ein Gesundheitssystem, das in der Akutmedizin sehr leistungsfähig ist, aber in der Prävention und beim Zugang zur Grundversorgung (aufgrund der hohen finanziellen Beiträge) nur wenig leistet, den schnellen Anstieg bei der Langlebigkeit aufrechterhalten kann, ohne den weniger privilegierten Teil der Bevölkerung zu vernachlässigen.

Daten

Die Mortalitätsstatistik wurde anhand der Schweizer Nationalen Kohorte berechnet, einer Längsschnittstudie der gesamten Wohnbevölkerung der Schweiz (Bopp et al., 2009). Die Personen wurden in drei Bildungsstufen eingeteilt: obligatorische Stufe (Grundschule und Sekundarstufe I), Sekundarstufe II (z. B. Lehre mit EFZ oder Maturität) und Tertiärstufe (z. B. Universität oder Hochschule). Die Mortalitätsraten nach Alter, Geschlecht und Bildungsniveau wurden für jeden Fünfjahreszeitraum der individuellen Datenbank entnommen. Aus diesen Mortalitätsraten berechneten wir Tabellen für die Mortalität und die bedingten Lebenserwartungen bis zu einem Alter von 30 Jahren: das Alter, in dem sich das Bildungsniveau kaum noch ändern dürfte. Insgesamt haben wir 11,7 Millionen Menschen über 113 Millionen Personenjahre ausgewertet, und es wurden 1,47 Millionen Todesfälle registriert (siehe Tabelle A.1 im Anhang).

Die Gesundheitsstatistiken wurden auf der Grundlage der Schweizerischen Gesundheitsbefragung (ESS) des Bundesamtes für Statistik berechnet, einer Querschnittserhebung, die seit 1992 alle fünf Jahre bei einer Stichprobe der Schweizer Bevölkerung durchgeführt wird. Die Stichprobe ist so konzipiert, dass sie für alle Einwohnerinnen und Einwohner der Schweiz im Jahr der Erhebung repräsentativ ist, die 15 Jahre oder älter sind. In unsere Studie haben wir 71’951 Personen im Alter von 30 Jahren oder älter berücksichtigt, die an einer der fünf durchgeführten Befragungswellen teilgenommen haben (1992–2012).

Wir haben die Lebenserwartung bei guter Gesundheit definiert, indem wir den selbst eingeschätzten Gesundheitszustand verwendet haben. Die Befragten antworteten auf die Frage «Wie würden Sie Ihren Gesundheitszustand einschätzen?» mit «ausgezeichnet, sehr gut, gut, mittelmässig oder schlecht». Diese Frage weist zufriedenstellende Werte für die Reliabilität (Cox et al., 2009) und Validität (DeSalvo et al., 2006) auf. Der Wortlaut der Frage und die Elemente der Antwort sind nicht in jeder Sprache und Befragungswelle der ESS identisch. Wir haben jedoch eine Kodierung verwendet, die darin besteht, die drei besten Niveaus den zwei schlechtesten gegenüberzustellen, und die die Äquivalenz der Messung im Zeitverlauf und in der Sprache der Erhebung optimiert (Cullati et al., 2020). Die Lebenserwartung bei guter Gesundheit nach Geschlecht, Bildungsniveau und Fünfjahreszeitraum wurde nach der Sullivan-Methode berechnet (Sullivan, 1971). Diese weit verbreitete Messung gewichtet die gelebten Personenjahre einer Mortalitätstabelle mit der Prävalenz guter Gesundheit (weitere Details siehe Remund et al., 2019). Es bleibt anzumerken, dass die Lebenserwartung bei guter Gesundheit mit anderen Gesundheitsindikatoren definiert werden kann, z. B. einer funktionellen Behinderung. Diese Variabilität schränkt jedoch die Möglichkeiten ein, die Ergebnisse der Studien miteinander zu vergleichen.

Ergebnisse

In den Jahren 2010–2014 konnten die in der Schweiz lebenden Personen im Alter von 30 Jahren davon ausgehen, dass sie als Mann im Durchschnitt 81,5 Jahre und als Frau 85,7 Jahre alt werden würden (siehe Abbildung 2). Gleichzeitig konnten 30-Jährige davon ausgehen, bei guter Gesundheit bis zu einem Alter von 78,8 Jahren für Männer und 82,8 Jahren für Frauen leben zu können (siehe Abbildung 3). Männer sind also absolut gesehen gegenüber Frauen benachteiligt, relativ gesehen verbringen beide Geschlechter jedoch etwa 95 % ihres Lebens in guter Gesundheit, was bemerkenswert ist.

Abbildung 2: Lebenserwartung nach Bildungsniveau in der Schweiz im Alter von 30 Jahren

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Abbildung 3: Lebenserwartung bei guter Gesundheit nach Bildungsniveau in der Schweiz im Alter von 30 Jahren

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Abbildung 4: Lebenserwartung bei schlechter Gesundheit nach Bildungsniveau in der Schweiz

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Die Lebenserwartung und die Lebenserwartung bei guter Gesundheit haben sich im Laufe der 25-jährigen Beobachtungszeit stark verändert. Die Lebenserwartung stieg bei Männern stärker als bei Frauen (um 5,0 Jahre bzw. 3,1 Jahre). Hinsichtlich der Lebenserwartung bei guter Gesundheit war der Trend ähnlich: Der Anstieg war bei Männern grösser als bei Frauen (4,5 Jahre bzw. 3,1 Jahre).

Die parallelen Trends der Lebenserwartung und der Lebenserwartung bei guter Gesundheit führen zu einer bemerkenswert stabilen Anzahl von Jahren bei schlechter Gesundheit während der 25-jährigen Beobachtungszeit, die bei Männern bei ca. 2 Jahren und bei Frauen bei ca. 3 Jahren liegt (siehe Abbildung 4). Die einzige Ausnahme bildeten die frühen 2000er Jahre bei den Männern, in denen die Morbidität um sechs Monate gestiegen ist.

Demgegenüber hat sich der Unterschied in der Lebenserwartung nach Bildungsniveau (siehe Abbildung 2) deutlich verringert. Anfang der 1990er Jahre betrug der Abstand zwischen Absolventen der obligatorischen Schulzeit und Absolventen höherer Bildungsstufen bei Männern etwa 6 Jahre und bei Frauen 4 Jahre. Zwei Jahrzehnte später hatte sich dieser auf weniger als 5 bzw. 2,5 Jahre reduziert. Diese Konvergenz vollzog sich allmählich über den gesamten Zeitraum, beschleunigte sich jedoch deutlich zwischen Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre, was auf eine vorübergehende Verlangsamung der Verbesserung bei den Absolventen höherer Bildungsstufen zurückzuführen ist. Mit anderen Worten: Die Ungleichheiten bei der Sterblichkeit nach Bildungsniveau haben sich in der Schweiz im Zeitraum von 1990 bis 2014 verringert.

Hinsichtlich der Lebenserwartung bei guter Gesundheit ist ein gegenläufiger Trend zu beobachten: Der Abstand zwischen den Bildungsniveaus hat sich zwischen 1990 und 2014 vergrössert. Der Abstand zwischen Personen mit einer obligatorischen Schulbildung und Personen mit einer höheren Schulbildung stieg bei Männern von 7,6 auf 8,8 Jahre und bei Frauen von 3,3 auf 5,0 Jahre. Bei Männern mit obligatorischer Schulbildung ist die Lebenserwartung bei guter Gesundheit seit 2000 nicht gestiegen, und daher sind alle gewonnenen Lebensjahre von schlechter Qualität.

Die Kombination dieser beiden Entwicklungen – Konvergenz der Lebenserwartung und Divergenz der Lebenserwartung bei guter Gesundheit – bedeutet fatalerweise, dass die Anzahl der bei schlechter Gesundheit verbrachten Jahre je nach Bildungsniveau sehr unterschiedlich gestiegen ist. Sie hat sich bei Personen mit obligatorischer Schulbildung deutlich erhöht, und zwar zunächst bei den Frauen in den 1990er Jahren und nach 2000 auch bei den Männern. Zwischen 1990 und 2014 hat sich der Bildungsgradient in Bezug auf die Anzahl der Jahre bei schlechter Gesundheit von nicht signifikant zu einer Dichotomie zwischen Personen mit obligatorischer Schulbildung einerseits und Personen mit nachobligatorischen Ausbildungen andererseits entwickelt.

Schlussfolgerung

Eine frühere Studie für die Deutschschweiz hatte gezeigt, dass die Lebenserwartung je nach Bildungsniveau stark variiert (Spoerri et al., 2006). Diese Studie befasste sich jedoch nur mit historischen Trends und untersuchte nicht die Lebenserwartung bei guter Gesundheit. Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Schweiz in den letzten 25 Jahren erhebliche Zugewinne bei der Lebenserwartung verzeichnet hat, so dass sie zu den drei weltweit führenden Ländern in diesem Bereich gehört. Die gute Nachricht ist, dass dieser Gewinn an Lebenserwartung auch mit einem Anstieg der Lebenserwartung bei guter Gesundheit einherging. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die Entwicklung der Gesamtmortalität und -morbidität in der Schweiz der Annahme eines «dynamischen Gleichgewichts» in der Allgemeinbevölkerung (Manton, 1982) entspricht, d. h. einem parallelen und relativ linearen Wachstum für diese beiden Gesundheitsindikatoren.

Diese Dynamik ist jedoch innerhalb der verschiedenen sozialen Schichten unterschiedlich ausgeprägt. Durch die Zunahme der sozialen Ungleichheiten hinsichtlich der Lebenserwartung bei guter Gesundheit und einer Verringerung der sozialen Ungleichheiten bei der Lebenserwartung insgesamt kommt es bei Menschen mit niedrigem und hohem Bildungsniveau zu einer Expansion bzw. Kompression der Morbidität. In jedem Land kann also gleichzeitig eine Kompression und eine Expansion der Morbidität innerhalb der verschiedenen sozialen Schichten beobachtet werden. Ein ähnliches Phänomen wurde auch in Österreich zwischen 1981 und 2006 nachgewiesen (Klotz, 2010), was darauf hindeutet, dass unsere Ergebnisse ein allgemeineres Phänomen in anderen Ländern mit hohem Einkommen widerspiegeln könnten.

Ein Schlüsselaspekt dieses Prozesses ist, dass Personen mit dem niedrigsten Bildungsniveau eine Ausweitung der Morbidität erfahren haben, während Personen mit einem Abschluss der Sekundarstufe II entweder Stabilität (bei Männern) oder einen sinkenden Abstand (bei Frauen) zu ihren Altersgenossen mit einem Abschluss der Tertiärstufe aufweisen (Abbildung 3). Was unsere Ergebnisse zeigen, ist also im Wesentlichen ein Prozess der Marginalisierung der am wenigsten ausgebildeten Personen. Diese Interpretation wird durch die Tatsache gestützt, dass sowohl auf internationaler Ebene als auch in der Schweiz bei den jüngsten Geburtskohorten der Unterschied im Anteil der Menschen bei guter Gesundheit zwischen den Bildungsniveaus mit der Zeit zunimmt (Volken et al., 2017). Aufgrund der zunehmenden Ungleichheiten hinsichtlich der Lebenserwartung bei guter Gesundheit würde eine Anhebung des Rentenalters für alle Berufsgruppen die am stärksten gefährdeten Personen, deren Lebensjahre bei guter Gesundheit begrenzt sind, stärker treffen.

Dieser Prozess dürfte dadurch verstärkt werden, dass die Gruppe der Personen mit niedrigem Bildungsniveau einen sinkenden Anteil an der Gesamtbevölkerung ausmacht. Infolge der Demokratisierung der höheren Bildung ist diese Gruppe kleiner geworden und konzentriert sich auf Personen, die in anderen Dimensionen ihres Lebensverlaufs, wie beispielsweise dem Arbeitsmarkt, verletzbarer sind. Zwischen den 1990er Jahren und 2010 hat sich der Unterschied in der Arbeitslosigkeit zwischen Personen mit obligatorischer Schulbildung und Personen mit Sekundar- oder Hochschulbildung vergrössert (BFS, 2018), wobei erstere wesentlich höhere Quoten zu verzeichnen hatten. Diese Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt spiegeln sich in einer Verschlechterung des Gesundheitszustands der Menschen im erwerbsfähigen Alter wider. Demnach zeigt die Aufschlüsselung unserer Ergebnisse nach Alterskategorien, dass fast der gesamte Anstieg der Lebenserwartung bei schlechter Gesundheit unter Personen mit niedrigem Bildungsniveau von Personen im Alter zwischen 40 und 60 Jahren stammte (Remund et al., 2019).

Dies bleibt ein Rätsel. Warum spiegelt sich diese Verschlechterung des Gesundheitszustands der am stärksten benachteiligten Personen nicht in der Mortalität wider? Es wird allgemein angenommen, dass der soziale Gradient von Mortalität und Gesundheit von denselben Faktoren getragen wird (Link & Phelan, 1995). Es wäre somit zu erwarten, dass sich jede Veränderung in einem dieser Faktoren, wie z. B. der Arbeitslosenquote, auf die Lebenserwartung und die Lebenserwartung bei guter Gesundheit auswirkt.

Eine mögliche Erklärung für diese gegensätzlichen Tendenzen kann eventuell im schweizerischen Gesundheitssystem gefunden werden. Einerseits begünstigen der universelle und dezentrale Zugang zur Gesundheitsversorgung, das breite Spektrum an Heil- und Rehabilitationsbehandlungen und die hohen Gesundheitsausgaben im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt eine leistungsfähige kurative Medizin für alle (De Pietro et al., 2015). Diese Eigenschaften begründen unter anderem die allgemein hohe Lebenserwartung sowie die Konvergenz des Mortailitätsrisikos nach Bildungsniveau.

Im Gegensatz dazu gehören die direkten Zahlungen für Gesundheit und der aus finanziellen Gründen nicht befriedigte Bedarf an Gesundheitsversorgung zu den höchsten in den OECD-Ländern (De Pietro et al., 2015). Diese direkten Kosten zwingen Personen mit obligatorischer Schulbildung dazu, aus finanziellen Gründen doppelt so häufig auf Arzttermine (und damit auf Vorsorgeuntersuchungen und -behandlungen) zu verzichten wie Personen mit Sekundar- oder Tertiärausbildung, und dieser Abstand vergrössert sich tendenziell (BFS, 2017). Der Verzicht auf einen Arzttermin stieg bei Personen, die weniger als 3000 Franken im Monat verdienen, zwischen 2007 und 2010 von 22 % auf 34 % (Guessous et al., 2012). Es wurde ebenfalls nachgewiesen, dass Menschen mit obligatorischer Schulbildung deutlich seltener auf Haut-, Gebärmutterhals- und Prostatakrebs untersucht werden (Burton-Jeangros et al., 2017; Guessous et al., 2016; Dumont et al., 2019). Unser Gesundheitssystem sichert allen Bürgerinnen und Bürgern eine hohe Lebenserwartung, weist aber Mängel bei der Demokratisierung von Gewinnen für alle im Hinblick auf die Lebenserwartung bei guter Gesundheit auf.

Anhang

Tabelle A.1: Beschreibung der Datenbestände

                                                                 Schweizer Nationale Kohorte (SNC)
  1990-94 1995-99 2000-04 2005-09 2010-14
Personenjahre (Mio.) 17.2 22.1 23.5 24.2 26.4
Alter (Durchschnitt) 52.8 53.1 53.4 54.4 54.6
Geschlecht (%)          
Männer 47.9 48.1 48 48 48.5
Frauen 52.1 51.9 52.1 52 51.5
Bildung (%)          
Obligatorische Stufe 31 27.6 24.4 22.3 19.4
Sekundarstufe 49.5 51.7 52.1 53.5 46.6
Tertiärstufe 18.5 20 21.9 22.1 18.2
Nicht bekannt 1 0.8 1.7 2.1 15.9
  Schweizerische Gesundheitsbefragung (ESS)
  1992 1997 2002 2007 2012
Stichprobengrösse 11,676 10,333 16,835 15,811 17,296
Teilnahmequote an der Befragung (%) 70.8 68.8 63.9 66.3 53.1
Suboptimale Gesundheit, gewichtet (%) 4.1 4.2 3.9 4.8 5.1

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