Kulturverhalten in der Schweiz: Dimensionen und Entwicklungen 1976-2019

N°32, Dezember 2022
Sebastian Weingartner (Statistisches Amt, Kanton Zürich), Jörg Rössel (Universität Zürich),

December 12, 2022
How to cite this article:

Weingartner, S. & Rössel, J. (2022). Kulturverhalten in der Schweiz: Dimensionen und Entwicklungen 1976-2019. Social Change in Switzerland, N°32. doi: 10.22019/SC-2022-00008

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Zusammenfassung

Dieser Beitrag untersucht auf der Basis von Umfragedaten die zentralen Dimensionen der kulturellen Partizipation und ihrer sozialstrukturellen Prägung in der Schweiz von den siebziger Jahren bis heute. Unsere Auswertungen zeigen, dass über diesen Zeitraum hinweg zwei Dimensionen herausragen: erstens der Umfang des kulturellen Engagements und zweitens die Unterscheidung zwischen Hoch- und Populärkultur. In der Schweiz können drei Typen von Kulturnutzern unterschieden werden: die Inaktiven, die sich kaum beteiligen; die Eklektiker, die unterschiedliche kulturelle Aktivitäten mischen; die Hochkulturfans, die sich vorwiegend und intensiv hochkulturell engagieren. In den letzten vier Jahrzehnten hat der Anteil der Inaktiven an der Bevölkerung abgenommen, dagegen stiegen die Anteile von Eklektikern und Hochkulturfans. Die kulturelle Partizipation hängt auch heute noch von sozialstrukturellen Variablen ab. Das generelle Ausmass des kulturellen Engagements wird zunehmend durch den Bildungsstand geprägt, während hochkulturelle Aktivitäten stärker vom Alter abhängen.


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Einleitung

Kulturelle Aktivitäten, wie der Besuch von Kunstmuseen, das Hören von Musik oder das Lesen von Büchern und die darauf basierenden kulturellen Lebensstile spielen in der soziologischen Fachdiskussion eine grosse Rolle. Sie werden hier nicht allein als „harmlose“ Freizeitaktivitäten betrachtet, sondern als sozial relevante Signale des sozialen Status und der sozialen Zugehörigkeit. Diese Signale produzieren ihrerseits Vorteile im Feld der Bildung, des Arbeitsmarktes, bei der Partnersuche, im Knüpfen sozialer Beziehungen und in anderen gesellschaftlichen Feldern (Rössel et al., 2017, für eine journalistische Darstellung Behrisch, 2021). Dies spiegelt sich auch in alltäglichen Wahrnehmungen und Bewertungen wieder: wenn wir bestimmte Sportarten oder Veranstaltungen als elitär bezeichnen oder musikalische Genres stereotyp mit Altersgruppen verbinden, so wie Rap mit Jugendlichen und Klassik mit älteren Semestern.

Der klassische theoretische Bezugspunkt solcher Diskussionen ist die sogenannte Homologiethese von Pierre Bourdieu (1982). Damit ist eine Übereinstimmung (Homologie) zwischen den Dimensionen kulturellen Engagements und der Dimension des sozialen Status gemeint: Menschen mit hohem sozialen Status betreiben demnach vorwiegend hochkulturelle Aktivitäten, z. B. das Hören klassischer Musik oder den Besuch von Kunstausstellungen, während Menschen mit niedrigem sozialen Status eher an Inhalten der Populärkultur, wie Hollywoodfilmen oder Popmusik interessiert seien. Darauf basierende Untersuchungen wenden sich vornehmlich zwei Aspekten zu.

Einerseits geht es um die Frage, welche Art von sozialem Status für die Kulturpartizipation eigentlich von Bedeutung ist. Bei Bourdieu stand vor allem die Frage nach dem Zusammenhang von Klassenzugehörigkeit und kulturellen Lebensstilen im Vordergrund. In der Diskussion über die Homologiethese wurde von zahlreichen Autoren aber eingewandt, dass kulturelle Lebensstile auch durch Alter, Geschlecht und andere soziale Merkmale geprägt sein könnten (Katz-Gerro & Sullivan, 2010; van Eijck & Bargemann, 2004; Rössel et al., 2017). Manche Diskussionsbeiträge behaupteten sogar, dass sich kulturelle Aktivitäten von sozial prägenden Merkmalen generell abgekoppelt hätten. Hier wird häufig von der sogenannten Individualisierungsthese gesprochen, wonach kulturelle Lebensstile nicht mehr durch die Zugehörigkeit zu sozialen Klassen und Gruppen bestimmt seien, sondern letztlich individuell geprägt würden (Atkinson 2007, Beck 1991, van Eijck & Bargeman, 2004; van Eijck & Knulst, 2005). Es geht hier also letztlich um die Frage, in welchen sozialen Gruppen bestimmte kulturelle Aktivitäten stärker verbreitet sind und ob unsere Alltagszuschreibungen tatsächlich einen Realitätsgehalt aufweisen.

Zweitens wurde aber auch Bourdieus Vorstellung eines Raums der kulturellen Lebensstile, der durch einen Gegensatz zwischen hochkulturellen und populärkulturellen Aktivitäten strukturiert ist, in Frage gestellt. Insbesondere Peterson und Kern (1996) haben die These aufgestellt, dass Personen mit hohem Status keineswegs vorwiegend hochkulturell interessiert seien. Sie zeichnen sich vielmehr durch eine besonders grosse Geschmacksbreite aus – sogenannte cultural omnivores oder «kulturelle Allesfresser» -, die auch hochkulturelle Genres einschliesse. Diese mögen zum Beispiel nicht nur klassische Musik und Oper, sondern auch verschiedene Arten von populärer Musik. Personen mit einem niedrigen sozialen Status würden sich demgegenüber durch ein eher eingeschränktes kulturelles Interesse auszeichnen.

Fokussiert die These von Peterson und Kern vor allem auf die Vielfalt von kulturellen Geschmacksvorlieben, z. B. im Musikgeschmack, hat die neuere Forschung stärker die Breite des tatsächlichen kulturellen Engagements in den Blick genommen (Jæger & Katz-Gerro, 2010; Roose et al., 2012; Weingartner & Rössel, 2019). Auch hier zeigt sich deutlich ein Gegensatz zwischen Personen, die generell eher wenig aktiv sind, mit der Ausnahme von Fernsehen und Radiohören, und Personen, die ein breites kulturelles Engagement in ganz unterschiedlichen Genres aufweisen. Hier vertreten manche Autoren auch die These, dass dieses breite kulturelle Engagement in der Regel auch hochkulturelle Aktivitäten einschliesst (Coulangeon, 2013).

Die für die Schweiz verfügbaren Daten zeigen ein hohes kulturelles Engagement der Bevölkerung, wobei nur wenige Aussagen über die längerfristige zeitliche Entwicklung gemacht werden können (BFS, 2020). Konzerte, Museen und Denkmäler werden von fast drei Viertel der Bevölkerung mindestens einmal im Jahr besucht. Dies verändert sich auch im Zeitverlauf nur geringfügig. Langfristig ist eine Ausweitung der kulturellen Aktivitäten anzunehmen. Eigene kulturelle Aktivitäten sind weniger verbreitet, aber immerhin zwischen 20 und 25 % der Bevölkerung spielen Instrumente, Singen, sind gestalterisch tätig oder fotografieren. Auch hier zeigt sich im Vergleich der beiden jüngsten Erhebungen des Bundesamtes für Statistik (2014 und 2019) keine grössere Verschiebung, tendenziell aber ein Anstieg der Aktivität.

Die beiden Fragen nach den zentralen Dimensionen kultureller Aktivitäten und ihrer Verbreitung in bestimmten sozialstrukturellen Bevölkerungsgruppen werden in der Regel auf der Basis von Daten untersucht, die nur für einen Zeitpunkt vorliegen. Insbesondere existieren kaum Untersuchungen, die auf länger zurückliegende Daten zurückgreifen. Es gibt nur wenige Studien, die im Zeitverlauf den Wandel der Bedeutung verschiedener Dimensionen des kulturellen Engagements und ihren statistischen Zusammenhang mit sozialstrukturellen Variablen wie beruflicher Position, Bildung, Geschlecht oder Alter untersuchen. Genau dieser Aufgabe widmet sich der vorliegende Beitrag, der den Wandel des kulturellen Engagements und seiner sozialstrukturellen Determinanten von 1976 bis 2019 in der Schweiz nachzeichnet. Im folgenden Abschnitt werden wir die drei verwendeten Datensätze und die daraus verwendeten Variablen sowie die Analysemethoden erläutern, bevor die Ergebnisse unserer Untersuchung dargestellt werden.

Daten

Zur Untersuchung des Wandels des kulturellen Engagements und seiner sozialstrukturellen Determinanten greifen wir auf drei Datenquellen zu vier Zeitpunkten zurück: 1976, 1988, 2013 und 2019. Für 1976 können wir die Befragung « Les comportements et la mobilité en la matière de loisirs et de vacances en Suisses » (N = 1066, Lalive d’Epinay et al., 1982) verwenden. Im Jahr 1988 wurde ein Modul des Mikrozensus den Themen Freizeit und Kultur gewidmet (N = 45’386, BfS 1990). Für die Jahre 2013 und 2019 greifen wir auf die 15. und 21. Welle des Schweizer Haushaltspanels zurück (2013 N = 6472, 2019 N = 7761, Vorpoostel et al., 2021). Obwohl sich die drei Befragungen für die vier Zeitpunkte in bestimmten Punkten unterscheiden, enthalten sie vergleichbare Angaben zu Kulturaktivitäten. Um die Vergleichbarkeit der Stichproben zu gewährleisten, haben wir die berücksichtigten Fälle auf Befragte im Alter zwischen 15 und 74 Jahren beschränkt (siehe Tabelle A.1 im Anhang).

Alle Umfragen enthalten Informationen zu den kulturellen Aktivitäten und den sozio-demographischen Merkmalen der Befragten. Um eine sinnvolle Analyse zu ermöglichen, müssen allerdings vergleichbare Fragen zu den kulturellen Aktivitäten herangezogen werden. Um dies zu gewährleisten, haben wir für jeden Zeitpunkt 12 ähnliche kulturelle Aktivitäten ausgewählt, wobei sechs eher einem hochkulturellen Modell entsprechen (Aktivitäten wie Theaterbesuch oder Bücher lesen) und sechs eher der Populärkultur zuzurechnen sind (Aktivitäten wie Diskothekenbesuch oder Fernsehen).

Darüber hinaus wurden sowohl für die hochkulturellen als auch die populärkulturellen Aktivitäten je drei Formen des kulturellen Engagements ausgewählt, die typischerweise im häuslichen Kontext bzw. im ausserhäuslichen Kontext stattfinden. Die ausgewählten Variablen sind, da es sich um unterschiedliche Befragungen handelt, nicht exakt identisch, aber sie überschneiden sich so stark, dass ein sinnvoller Vergleich möglich ist (siehe Tabelle 1). Um die Vergleichbarkeit der Ausprägungen der Variablen zu gewährleisten, wurden diese einheitlich umkodiert.[1] Für jeden Befragungszeitspunkt wurden die kulturellen Aktivitäten in drei Ausprägungen erfasst: nie, selten und häufig.

Wir analysieren den Wandel der Dimensionen kultureller Aktivitäten und ihrer sozialstrukturellen Determinanten mithilfe von drei verschiedenen statistischen Verfahren, die wir hier nur intuitiv erläutern möchten (siehe Weingartner & Rössel, 2019 für mehr Details). Erstens verwenden wir die Korrespondenzanalyse, die es ermöglicht, Beziehungen zwischen den kulturellen Aktivitäten in einen mehrdimensionalen Raum zu projizieren. In diesem Raum finden sich Ausprägungen der Variablen, die häufig gemeinsam bei denselben Personen auftreten, räumlich nah beieinander, während Ausprägungen, die selten zusammen bei denselben Personen auftreten, eine grosse räumliche Distanz aufweisen. Wenn also Personen, die häufig ins Kino gehen, auch selten Bücher lesen, dann sind diese beiden Ausprägungen räumlich nahe beieinander im Schaubild angesiedelt. Die Korrespondenzanalyse ermöglicht uns, die zentralen Dimensionen der kulturellen Aktivitäten festzustellen. Diese Analyse wird für jeden Zeitpunkt unabhängig von den anderen Zeitpunkten durchgeführt. Zweitens verwenden wir Clusteranalysen, um Gruppen von Personen mit ähnlichen kulturellen Aktivitäten zu erfassen. Bei der Clusteranalyse geht es darum, Menschen mit ähnlichen Verhaltensweisen zu gruppieren. Schliesslich verwenden wir Regressionsanalysen, um zu bestimmen, ob die kulturellen Aktivitätsmuster in bestimmten sozialen Gruppen häufiger oder seltener auftreten. Hier können wir feststellen, ob häufiges kulturelles Engagement etwa vom Alter oder der Bildung einer Person abhängig ist.

Tabelle 1: Messung des Kulturverhaltens in den vier Befragungen

Muster der kulturellen Partizipation im Wandel

Unser erstes Ergebnis beruht auf der Korrespondenzanalyse der kulturellen Aktivitäten und ihres Wandels. Die Abbildung 1 zeigt, dass sich die kulturellen Aktivitäten in jedem Untersuchungsjahr auf zwei Dimensionen abbilden lassen. Die erste und wichtigste Dimension (horizontale Dimension) differenziert die Befragten entlang der Breite und des Umfangs ihres kulturellen Engagements. Auf der linken Seite finden sich kulturell eher aktive Personen und auf der rechten Seite kulturell eher inaktive Personen. Dies kann exemplarisch an der Teilabbildung für 2019 demonstriert werden. Im rechten Teil der Abbildung finden sich vor allem Ausprägungen von kulturellen Aktivitäten, die nie ausgeübt werden (0), wie Bücherlesen, Kino, Museum und Theater. Eine Ausnahme stellt, wie erwartet, das Fernsehen dar, bei denen die häufigen Ausprägungen (2) tendenziell im rechten Teil der Abbildung liegen. Im linken Teil der Abbildung finden sich dagegen die häufigeren Ausprägungen (1 und 2) von Aktivitäten wie Bücherlesen, Museen, Theater oder Clubs.

Abbildung 1: Raum der Lebensstile in der Schweiz 1976, 1988, 2013 und 2019

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Description automatically generated Die Abbildungen zeigen multiple Korrespondenzanalysen mit kulturellen Aktivitäten als aktive Modalitäten. Dargestellt werden nur einflussstarke Aktivitäten (überdurchschnittliche Kontribution). Die einzelnen Aktivitäten können unterschiedlich häufig ausgeübt werden: 0 «nie», 1 «ab und zu», 2 «häufig». Gestrichelte Linien haben keine inhaltliche Bedeutung, sondern dienen lediglich der Beschriftung einzelner Punkte.

Als untergeordnete Dimension (vertikale Dimension der abgebildeten Abbildung) finden wir dagegen den Gegensatz zwischen den hochkulturellen und den populärkulturellen Aktivitäten. Während sich die eher der Hochkultur zurechenbaren Formen des kulturellen Engagements auf der unteren Seite der Abbildung befinden (Oper, klassische Konzerte, Museum), gilt für die populären Aktivitäten (Disco/Clubs, Computerspiele, Sportveranstaltungen) genau das Gegenteil. Auf der unteren Seite der Darstellung finden sich auch vermehrt die sehr häufigen Formen des kulturellen Engagements: Menschen, die sich vor allem an der Hochkultur beteiligen, machen dies also besonders intensiv. An diesem Muster ändert sich auch im Zeitverlauf wenig. Dies bedeutet, dass der Raum der kulturellen Lebensstile in der Schweiz zwischen 1976 und 2019 vor allem durch einen Gegensatz zwischen kulturell eher aktiven und kulturell eher inaktiven Menschen geprägt ist. Die Gegenüberstellung von Hochkultur und Populärkultur ist demgegenüber eher nachrangig, lässt sich aber ebenfalls über den kompletten Untersuchungszeitraum hinweg beobachten. Dennoch hat der von Bourdieu behauptete Gegensatz von Hoch- und Populärkultur die kulturellen Lebensstile in der Schweiz in den vergangenen vier Jahrzehnten nicht primär geprägt.

Typen der kulturellen Beteiligung im Wandel

In einem zweiten Schritt wenden wir uns der Frage zu, welche kulturellen Aktivitätsprofile man bei Menschen in der Schweiz feststellen kann? Dazu haben wir eine Clusteranalyse durchgeführt, bei der Personen mit ähnlichen Ausprägungen auf den beiden Dimensionen zusammen gruppiert werden. Gleichzeitig werden Personen mit unterschiedlichen Ausprägungen verschiedenen Aktivitätstypen zugeordnet. Wir konnten für jeden Zeitpunkt der Untersuchung drei Gruppen unterscheiden.

Die erste dieser Gruppen haben wir als die «Inaktiven» bezeichnet, da sie sich kulturell, bis auf Radiohören und Fernsehen, kaum engagieren. Als zweite Gruppe können wir die «Hochkulturfans» ausmachen, die fast ausschliesslich und sehr häufig hochkulturelle Aktivitäten wie klassische Musik hören, Bücher lesen und Museumsbesuche ausüben. Und schliesslich lässt sich eine Gruppe von sogenannten «Eklektikern» beobachten. Diese üben die einzelnen Aktivitäten zwar weniger häufig aus, beteiligen sich dafür aber sowohl im populärkulturellen als auch im hochkulturellen Bereich – man findet diese Personen also sowohl im Rockkonzert als auch in der Oper, in der Discothek und auch im Kunstmuseum. Diese Durchmischung entspricht am ehesten dem Profil, das Peterson und Kern (1996) als «kulturelle Allesfresser» identifizieren.

Abbildung 2: Anteile der Konsummuster im Zeitverlauf

In Abbildung 2 ist die Grösse dieser drei Gruppen im Zeitverlauf ersichtlich. Hier wird ein tiefgreifender Wandel der kulturellen Partizipation deutlich: Während in den siebziger Jahren noch über die Hälfte der Bevölkerung zu den Inaktiven gerechnet werden konnte, macht diese Gruppe gegenwärtig nur noch ein Drittel der Bevölkerung aus. Die Schweizer Bevölkerung ist also kulturell deutlich aktiver geworden. Insbesondere die Eklektiker steigern ihren Anteil kontinuierlich. Konnten in den siebziger Jahren weniger als 30% zu dieser Gruppe gerechnet werden, so sind dies gegenwärtig fast 40%. Auch die Hochkulturfans steigern ihren Anteil an der Bevölkerung, von etwa 12% in den siebziger Jahren bis hin zu nahezu 30% in der Gegenwart. Dementsprechend sind heute nahezu alle kulturellen Aktivitäten stärker verbreitet als noch in den 1970er Jahren. Besonders stark zugenommen haben Kino- und Museumsbesuche, aber auch das Lesen von Büchern. Als Zwischenfazit kann man festhalten, dass die Hauptdimensionen der kulturellen Partizipation von den 1970er Jahren bis in die Gegenwart konstant geblieben sind: Die Engagement-Dimension und die Hochkultur-Dimension prägen das Kulturverhalten der Schweizer Bevölkerung. Aber die Gesamtaktivität und die Verteilung der kulturellen Aktivität auf Bevölkerungsgruppen hat sich deutlich hin zu mehr kulturellem Engagement verschoben.

Unterschiede in der kulturellen Aktivität zwischen sozialen Gruppen

In einem letzten Schritt prüfen wir, wie stark sich die Beteiligung an kulturellen Aktivitäten zwischen verschiedenen sozialen Gruppen unterscheidet und ob sich diese Unterschiede im Zeitverlauf verändert haben. Dabei fokussieren wir auf die beiden Hauptdimensionen der kulturellen Aktivität, die sich in der Korrespondenzanalyse ergeben haben: Die Engagement-Dimension und die Hochkultur-Dimension. Mithilfe von Regressionsmodellen berechnen wir, ob und wie stark kulturelle Partizipation durch bestimmte Merkmale beeinflusst wird. Wir haben Alter, Geschlecht, Bildungsstand, Berufsstatus, Staatsbürgerschaft, Region und Konfession in ihrem Einfluss auf das Kulturverhalten betrachtet. Da Staatsbürgerschaft, Region und Konfession nur einen vernachlässigbaren Einfluss haben, lassen wir sie in der grafischen Darstellung ausser Acht. In der Abbildung 3 (links) ist die partielle erklärte Varianz für die einzelnen Variablen angegeben. Diese gibt an, wie stark die jeweilige Dimension der kulturellen Aktivitäten durch die jeweilige sozialstrukturelle Variable unter Kontrolle aller anderen Variablen geprägt ist. Wir können also untersuchen, ob bestimmte Aktivitäten in bestimmten sozialen Gruppen häufiger oder seltener ausgeübt werden – und dies im Verlaufe der Zeit. Diese Ergebnisse machen deutlich, dass das generelle Ausmass des kulturellen Engagements vor allem durch den Bildungsstand und den Berufsstatus geprägt wird. Während allerdings der Berufsstatus an Relevanz verliert, wird das kulturelle Engagement gegenwärtig am stärksten durch die Bildung bestimmt. Je höher die Bildung, desto häufiger gehen die Menschen ins Kino, aber auch in die Oper und ins Museum. Nach Alter und Geschlecht gibt es dagegen kaum Unterschiede im Ausmass der kulturellen Aktivität.

Abbildung 3: Erklärungskraft der Determinanten des kulturellen Engagements (links) und der Hochkulturpartizipation (rechts) im Zeitverlauf

Betrachtet man nun Abbildung 3 (rechts), so wird deutlich, dass auch die Beteiligung an hochkulturellen Aktivitäten bis heute durch sozialstrukturelle Grössen geprägt wird. Auch hier ist keine Individualisierung zu erkennen. Allerdings lässt sich eine klare Veränderung der sozialstrukturellen Bestimmungsgrössen feststellen. Die Beteiligung an der Hochkultur war in den siebziger Jahren durch Bildung, Berufsstatus und Geschlecht geprägt, wobei Menschen mit hoher Bildung und hohem Berufsstatus sowie Frauen häufiger in hochkulturellen Veranstaltungen zu finden waren. Dagegen ist heute an deren Stelle das Alter als primäre Determinante getreten. Hochkultur ist also heute nicht mehr ausschliesslich eine Domäne der hochgebildeten Personen, sondern vor allem der älteren Bevölkerungsgruppen.

Schlussfolgerungen

In unserem Beitrag haben wir die zentralen Dimensionen des kulturellen Verhaltens in der Schweiz von den siebziger Jahren bis heute auf der Basis von drei unterschiedlichen Befragungen an vier Zeitpunkten untersucht. Unsere Auswertungen zeigen, dass die kulturellen Lebensstile in der Schweiz konstant durch zwei Dimensionen geprägt werden. Erstens die dominante Dimension des kulturellen Engagements: Es gibt Menschen, die stärker kulturell aktiv sind als andere, und zwar unabhängig vom kulturellen Genre. Zweitens zeigt sich ein Gegensatz zwischen Hochkultur und Populärkultur, dieser ist allerdings etwas weniger von Bedeutung. Kulturelles Verhalten in der Schweiz war im betrachteten Untersuchungszeitraum nie primär durch den von Bourdieu behaupteten Gegensatz von Hoch- und Populärkultur geprägt – dieser Teil der Homologiethese trifft auf die Schweiz nicht zu. Neuere Studien zeigen vergleichbare Ergebnisse für andere Länder wie Frankreich oder die Niederlande (Coulangeon, 2013; Roose et al., 2012).

Wir können darüber hinaus in der Schweiz drei Typen von Kulturnutzern unterschieden: die Inaktiven, die sich kaum kulturell beteiligen; die Eklektiker, die unterschiedliche Typen von kulturellen Aktivitäten mischen; die Hochkulturfans, die sich vorwiegend hochkulturell engagieren, dies aber sehr intensiv. Zwischen 1976 und 2019 nahm der Anteil der Inaktiven an der Bevölkerung drastisch ab, dagegen stiegen die Anteile von Eklektikern und Hochkulturfans. Die Schweizer Bevölkerung wurde also kulturell aktiver. Den Hintergrund dieser Entwicklungen bildet der zunehmende Wohlstand sowie vor allem die Bildungsexpansion in der Schweiz (Becker & Zangger, 2013; Weingartner & Rössel, 2019). Diese erhöht tendenziell die Nachfrage nach kulturellen Angeboten, wenn auch nicht notwendigerweise nach hochkulturellen Veranstaltungen (DiMaggio & Mukthar, 2004; van Eijck & Knulst, 2005; Coulangeon, 2013). Dabei zeigt die bisherige Forschung, dass die Eintrittspreise nur einen kleinen Einfluss auf die Beteiligung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen an kulturellen Aktivitäten haben (Rössel et al., 2005).

Schliesslich haben wir untersucht, ob sich die sozialstrukturellen Determinanten des kulturellen Verhaltens im Laufe des Untersuchungszeitraums verändert haben. Hier ist vor allem festzuhalten, dass keine Individualisierung der kulturellen Lebensstile stattgefunden hat. Diese sind bis in die Gegenwart deutlich durch sozialstrukturelle Variablen geprägt. Allerdings haben gewisse Veränderungen stattgefunden. Das Ausmass des kulturellen Engagements wird zunehmend durch den Bildungsstand geprägt, während hochkulturelle Aktivitäten immer stärker durch das Alter bestimmt werden. Studien von Reuband über das Opernpublikum deuten darauf hin, dass es sich hier um einen Generationeneffekt handeln könnte. Die Generation der 1968er, also in den 1940er und 1950er Jahren geborene Personen, scheint eine besonders starke Nähe zur Hochkultur gehabt zu haben, die sich in den folgenden Generationen abgeschwächt hat (Reuband, 2017). Eine Entkopplung von kulturellen Lebensstilen und sozialstrukturellen Grössen hat jedoch nicht stattgefunden. Insofern trifft Bourdieus Homologiethese in dem Sinne weiter zu, dass kulturelle Aktivitäten klar durch sozialstrukturelle Merkmale geprägt sind. Unsere alltägliche Wahrnehmung, dass bestimmte kulturelle Aktivitäten von bestimmten sozialen Gruppen häufiger ausgeübt werden, trifft also weiterhin zu. Ob diese kulturellen Aktivitäten allerdings in der Schweiz auch als Eintrittskarten für das Bildungssystem, den Heiratsmarkt oder berufliche Karrieren fungieren, wie dies auch in der öffentlichen Diskussion behauptet wird (Behrisch, 2021), muss zukünftigen Studien vorbehalten bleiben.

  1. Für eine detaillierte Darstellung der methodischen Entscheidungen vgl. Weingartner/Rössel (2019).

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