Säkularisierung und Inklusivität. Die Entwicklung lokaler religiöser Gruppen in der Schweiz, 2008-2022
Stolz, J., Köhrsen, J., Senn, J., Monnot, C., Buzzi, A-L., & Hearn, A. (2024). Säkularisierung und Inklusivität. Die Entwicklung loka-ler religiöser Gruppen in der Schweiz, 2008 – 2022. Social Change in Switzerland, N°39. doi: 10.22019/SC-2024-00006
© the authors 2024. This work is licensed under a Creative Commons Attribution 4.0 International License (CC BY 4.0)
Zusammenfassung
Lokale religiöse Gruppen wie Pfarreien, Gemeinden, Synagogen, Tempel, Moscheen oder Kultur-zentren sind weiterhin die wichtigste Organisationsform von Religion in der Schweiz. Wir präsen-tieren Ergebnisse der zweiten Welle der National Congregation Study Switzerland, welche Verän-derungen in der religiösen Landschaft der Schweiz zwischen 2008 und 2022 aufzeigt. Hierfür wur-den alle lokalen religiösen Gemeinschaften im Schweizer Raum gezählt, sowie Interviews mit einer repräsentativen Stichprobe spiritueller Leitungspersonen geführt, um die Merkmale und Aktivitä-ten ihrer jeweiligen Gemeinschaften zu analysieren. Dieser Artikel präsentiert zwei zentrale Er-gebnisse. Erstens stellen wir eine anhaltende Säkularisierung fest: Die Zahl lokaler Gruppen in der Schweiz ist zurückgegangen und das Durchschnittsalter der Leitungspersonen und regelmässig Teil-nehmenden ist deutlich gestiegen. Zweitens stellen wir eine insgesamt wachsende Inklusivität unter den lokalen religiösen Gruppen fest, mit einer höheren Akzeptanz gegenüber Homosexuel-len und einer höheren normativen Offenheit und Praxis gegenüber weiblicher spiritueller Leitung. Es gibt jedoch wichtige Unterschiede zwischen den religiösen Traditionen.
Copyright
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Einführung
Lokale religiöse Gruppen wie Pfarreien, Kirchen, Versammlungen, Synagogen, Tempel, Moscheen oder Kulturzentren sind in der Schweiz wie in allen europäischen Ländern weiterhin die wichtigste Organisationsform der Religion (Baumann 2012). Lokale religiöse Gruppen werden im englischen Sprachraum oft als “Congregations” bezeichnet. Da lokale religiöse Gemeinschaften vielen Bürgerinnen und Bürgern Werte, Sinn und soziale Unterstützung vermitteln, ist es hilfreich, die Veränderungen im religiösen Feld über die Zeit zu verstehen – besonders im Kontext zweier aktueller Debatten.
Eine erste Debatte betrifft das Phänomen der Säkularisierung in der Schweiz und in Europa im Allgemeinen. Einige Forschende sind der Ansicht, westliche Gesellschaften seien einem allgemeinen Säkularisierungstrend unterworfen (Bruce 2011, Stolz 2020, Stolz, Bünker, und Liedhegener 2022). Andere dagegen behaupten, dass wir es nicht mit einem Niedergang, sondern einem Wandel der Religion zu tun hätten (Gauthier 2020, Cipriani 2017, Müller 2020). Letztere Sichtweise gibt zwar zu, dass die großen anerkannten christlichen Kirchen (reformiert, katholisch) einen gewissen Rückgang an Mitgliedern verzeichnen, sie nimmt aber an, dass nicht anerkannte Christen (z.B. Evangelikale, Orthodoxe) und nichtchristliche spirituelle Gruppen stabil seien oder sogar wachsen würden. Moderne Gesellschaften seien also nicht von einem Säkularisierungs-, sondern einem Pluralisierungsprozess betroffen (Vertovec 2007, Griera 2018, Martinez-Arino 2018). Hier leistet unsere Forschung einen Beitrag, indem sie zeigt, dass Säkularisierung nicht nur bei anerkannten christlichen Gruppen, sondern über das ganze Feld hinweg stattfindet. Zwar finden wir Ausnahmen, aber diese Fälle können den allgemeinen Säkularisierungstrend nicht kompensieren.
Eine weitere Debatte betrifft die Inklusivität der verschiedenen religiösen Traditionen. Postindustrielle Gesellschaften sind in den letzten Jahrzehnten gegenüber Homosexualität und der Anerkennung weiblicher Führung in Organisationen sehr viel inklusiver geworden (Inglehart und Norris 2003). Religionsgruppen erscheinen in diesem Zusammenhang häufig als “rückständig”, da sie oft stärker patriarchale Positionen als der gesellschaftliche Mainstream einnehmen (Stolz und Monnot 2019, Tausch 2025, Poushter und Kent 2020). Unsere Ergebnisse tragen zu dieser Debatte bei, indem sie auf einen langsamen Gesamttrend zu mehr Inklusion auch unter lokalen religiösen Gruppen in der Schweiz hinweisen. Es gibt jedoch wichtige Unterschiede zwischen den verschiedenen Religionsgruppen in Bezug auf solche Veränderungen.
Dieser Beitrag stellt die folgende Forschungsfrage: Wie haben sich die Eigenschaften und Aktivitäten der lokalen religiösen Gruppen in der Schweiz zwischen 2008 und 2022 verändert? Wir konzentrieren uns dabei auf zwei Hauptergebnisse zur Säkularisierung und Inklusivität der lokalen Religionsgruppen. Weitere Ergebnisse finden sich auf www.congregation.ch.
Sowohl 2008/2009 als auch 2020/2021[1] bestand die Methode darin, alle lokalen religiösen Gruppen in der Schweiz zu zählen (Zählung) und dann eine repräsentative Stichprobe von geistlichen Leitungspersonen über die Eigenschaften und Aktivitäten ihrer lokalen religiösen Gruppe zu befragen (Umfrage).
Zunächst wurde eine Zählung durchgeführt, bei der alle lokalen religiösen Gruppen in der Schweiz in den Jahren 2008 und 2020 systematisch gezählt und kategorisiert wurden. Als lokale religiöse Gruppe (Gemeinde) bezeichnen wir eine Gruppe von Menschen, die sich physisch und regelmäßig zu ausdrücklich religiösen Zwecken treffen (Chaves 2004). Lokale religiöse Gruppen wurden für alle Religionen untersucht: Reformierte Protestanten, Katholiken, Evangelikale, orthodoxe Christen, andere Christen, Juden, Muslime, Buddhisten, Hindus und andere Religionen (z.B. alternative Spiritualitäten und neue religiöse Bewegungen). In beiden Wellen wurde die gleiche Definition und Operationalisierung von “lokaler religiöser Gruppe” verwendet (siehe Anmerkung im Anhang).
Anschließend fand die Umfrage statt: Sowohl 2008/2009 als auch 2022/23[2] wurde eine geschichtete Zufallsstichprobe aus der vollständigen Liste der lokalen religiösen Gruppen gezogen. Für jede ausgewählte lokale Gruppe wurde eine Schlüsselperson, in den meisten Fällen die geistliche Leitungsperson, ermittelt. Mit dieser Schlüsselperson führten wir ein Interview über die Merkmale und Aktivitäten der lokalen religiösen Gruppen in einer der drei wichtigsten Landessprachen: Deutsch, Französisch oder Italienisch. Die etwa 200 Fragen konzentrierten sich auf konkrete und überprüfbare religiöse Praktiken und Merkmale der Organisation. 2008 wurden alle Interviews per Telefon geführt. 2022 fanden die Interviews entweder per Telefon oder online statt. 2008 wurden 1022 Interviews geführt (Rücklaufquote: 60,3%), 2022 fanden 1395 Interviews statt (Rücklaufquote: 45,4%).
Säkularisierung: weniger Gruppen und weniger Teilnehmer
Zwischen 2008 und 2020 ist die Gesamtzahl der lokalen religiösen Gruppen sowie die Zahl regelmäßig Teilnehmender an religiösen Ritualen zurückgegangen. Die Zahl der lokalen religiösen Gruppen ist von 6341 auf 5883 Gruppen gesunken (Senn, Stolz, und Monnot 2024). Dies entspricht einem Rückgang von 7,2%. Mit dem Anstieg der Bevölkerung im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der Gemeinden pro Personen von einer lokalen religiösen Gruppe für 1.184 Personen im Jahr 2008 auf eine lokale religiöse Gruppe für 1.476 Personen im Jahr 2020. Dieser Rückgang kann als ein Zeichen für die fortschreitende Säkularisierung der Schweizer Gesellschaft interpretiert werden.
Die Gesamtzahl regelmäßig Teilnehmender an Ritualen lokaler Religionsgruppen in der Schweiz ist ebenfalls von etwa 894’000 auf 824’000 zurückgegangen. Wir schätzen diese Zahlen, indem wir die Anzahl der Gruppen mit dem Durchschnitt der regelmäßig Teilnehmenden multiplizieren, der mit unserer repräsentativen Stichprobe berechnet wurde. Die durchschnittliche Anzahl der regelmäßig Teilnehmenden pro Gemeinschaft ist zwischen 2008 (141) und 2022 (140) praktisch unverändert geblieben. Da jedoch die Zahl der Gruppen insgesamt im Jahr 2020 zurückgegangen ist, kommen wir zu der deutlich niedrigeren Zahl der regelmäßig Teilnehmenden im Jahr 2022. In Prozenten ausgedrückt bedeutet dies, dass 2008 etwa 11,6 % der Bevölkerung regelmäßig an einem Gottesdienst teilnahmen, im Jahr 2022 jedoch nur noch 9,5 %. Es ist zu beachten, dass diese Zahlen auf den Schätzungen der regelmäßig Teilnehmenden durch die Schlüsselpersonen beruhen.
Abbildung 1: Anzahl der entstandenen, verbliebenen und aufgelösten lokalen religiösen Gruppen, nach religiöser Tradition (2008 und 2020)
Anmerkung: Volkszählungsdaten, 2008 und 2020
Bisher haben wir uns die Veränderungen in der Gesamtzahl der lokalen religiösen Gruppen und Teilnehmenden angesehen. Jedoch hat sich die Zahl der Gruppen in den verschiedenen religiösen Traditionen unterschiedlich entwickelt. Abbildung 1 zeigt für jede Tradition die Anzahl der Gruppen, die zwischen 2008 und 2020 verschwunden (rot), neu entstanden (grün) und geblieben (blau) sind. Wir machen vier Bemerkungen zu Abbildung 1.
Erstens sehen wir, dass die großen anerkannten religiösen Traditionen, d.h. die reformierten und katholischen, im Beobachtungszeitraum fast nur Gruppen verlieren (normalerweise durch Fusion). Ganz ähnlich geht es den evangelisch-konservativen Traditionen.
Eine andere Situation zeigt sich, zweitens, für die evangelikale charismatische (oder: pfingstliche) Tradition. Diese Form des Christentums ist weltweit auf dem Vormarsch (Zurlo, Johnson, und Crossing 2020). In der Schweiz wurden seit 2008 viele neue evangelikale charismatische Gruppen gegründet (241). Gleichzeitig sind aber auch viele evangelikale charismatische Gruppen verschwunden (236). Die Gesamtzahl der Gruppen ist also stabil geblieben (720 bis 725, +0,7%). Ebenso ist die Gesamtzahl der durchschnittlichen regelmäßig Teilnehmenden mit 169 im Jahr 2008 und 161 im Jahr 2020 relativ stabil geblieben. Die evangelikal-charismatischen Gemeinden in der Schweiz wachsen also nicht, sondern weisen eine hohe Fluktuation auf.
Das deutlichste Wachstum weisen, drittens, die orthodoxen Christen auf. Ihre Zahl ist von 70 lokalen Gemeinschaften im Jahr 2008 auf 118 im Jahr 2020 gestiegen (+69%). Der Grund hierfür liegt in der Einwanderung, eine Folge insbesondere der Konflikte in Syrien, Äthiopien und Eritrea. Da unsere Untersuchung vor Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine abgeschlossen wurde, sind die Auswirkungen dieses Krieges in unseren Daten nicht erkennbar. Die andere nichtchristliche Religion mit einem starken Anstieg lokaler religiöser Gruppen ist der Buddhismus (+14% in Gruppen, von 141 auf 161). Der Grund dieses Anstiegs liegt jedoch nicht in der Einwanderung, sondern in einem größeren Erfolg des Buddhismus bei einheimischen Personen.
Die Zahl der muslimischen Moscheen ist zwischen 2008 und 2020 leicht zurückgegangen (von 323 auf 311). Während des Beobachtungszeitraums ist die Zahl der Muslime in der Schweiz jedoch deutlich gestiegen (+28%) (Bundesamt für Statistik 2022a). Auch die durchschnittliche Zahl der regelmäßig Teilnehmenden in Moscheen hat deutlich zugenommen (+13%). Die Diskrepanz könnte dadurch erklärt werden, dass es für Muslime recht schwierig ist, Räume für neue Moscheen zu finden (Monnot 2013).
Säkularisierung: Höheres Durchschnittsalter der Leitungspersonen und regelmässig Teilnehmenden
Im Beobachtungszeitraum ist sowohl das Durchschnittsalter der spirituellen Leitungspersonen als auch das der regelmäßig Teilnehmenden deutlich gestiegen. Zwischen 2008 und 2022 stieg das Durchschnittsalter der spirituellen Leitungspersonen um 3 Jahre, von 50,8 auf 53,8 Jahre. Im gleichen Zeitraum stieg das Durchschnittsalter der erwerbstätigen Bevölkerung in der Schweiz nur um 1,2 Jahre, von 40,8 auf 42 Jahre (Bundesamt für Statistik 2024). Die Bevölkerung der spirituellen Leitungspersonen ist also älter und altert (im Durchschnitt) schneller als die übrige Erwerbsbevölkerung. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass nicht genügend jüngere spirituelle Leitungspersonen rekrutiert werden. Dieser Alterungstrend ist sowohl bei den anerkannten Kirchen als auch bei den nicht anerkannten christlichen und nicht-christlichen Gemeinschaften zu beobachten. Die einzigen Ausnahmen sind konservative Evangelikale und andere Christen (Abbildung 2).
Das gleiche Phänomen lässt sich bei den regelmäßig Teilnehmenden der lokalen religiösen Gruppen beobachten (Anhang Abbildung A1). Der Anteil der regelmäßig Teilnehmenden im Alter von 60 Jahren oder älter ist von 41% im Jahr 2008 auf 50% im Jahr 2022 gestiegen. Bei den in der Schweiz ansässigen Personen ist derselbe Prozentsatz zwischen 2010 und 2022 nur von 23% auf 26% angestiegen (Bundesamt für Statistik 2022b). Auch hier ist die Erklärung, dass nicht genügend jüngere regelmäßig Teilnehmende die älteren Kohorten ersetzen.
Der wachsende Anteil der Senioren unter den regelmäßig Teilnehmenden ist bei den anerkannten christlichen Kirchen nicht überraschend. Hier lag der Prozentsatz der regelmäßig Teilnehmenden über 60 bereits 2008 über 50%. Überraschend ist jedoch, dass dieser Alterungstrend auch bei nicht anerkannten Christen und sogar bei nicht-christlichen Traditionen zu beobachten ist. Insgesamt ist die Überalterung der spirituellen Leitungspersonen und regelmäßig Teilnehmenden ein Indiz für die Säkularisierung der Schweizer Gesellschaft. Bei der Beurteilung der prozentualen Anteile der regelmäßig Teilnehmenden ist zu beachten, dass sie nicht auf Zählungen, sondern auf Schätzungen der Auskunftspersonen beruhen.
Abbildung 2: Durchschnittsalter der spirituellen Leitungspersonen nach religiöser Tradition (2008 und 2022)
Anmerkungen:
(1) Beginn des Pfeils: Prozentsatz im Jahr 2008; Ende des Pfeils: Prozentsatz im Jahr 2022.
(2) Änderungen sind mindestens auf < 0,05 Alpha-Niveau signifikant, außer bei Evang. Kons., Orth. Christen, Anderen Christen, Juden und Muslimen.
Inklusion: Mehr Offenheit gegenüber Homosexualität
Die Entwicklung hin zur Akzeptanz von Homosexualität ist in vielen religiösen Gruppen langsamer als in der Gesellschaft im Allgemeinen, insbesondere wenn die Gruppe ihre heiligen Schriften wörtlich auslegt (Chaves et al. 2021). Dennoch sind die lokalen religiösen Gruppen in der Schweiz im Durchschnitt offener gegenüber Homosexuellen geworden. Der Prozentsatz lokaler religiöser Gruppen, welche homosexuelle Menschen als voll akzeptierte Mitglieder in der Gemeinschaft akzeptieren, ist von 63% (2008) auf 75% (2022) gestiegen. Der Prozentsatz der Gruppen, welche homosexuelle Menschen als ehrenamtliche Leitungspersonen zulassen, hat sich von 36% (2008) auf 55% (2022) erhöht.
Die Zunahme der Akzeptanz von Homosexuellen zeigt sich über das gesamte religiöse Spektrum hinweg, beginnt aber auf sehr unterschiedlichem Niveau. Abbildung 3 zeigt die Veränderungen für die verschiedenen religiösen Traditionen. Der Wert auf der vertikalen Achse ist der Mittelwert einer Variable, die zwischen 2 (Akzeptanz sowohl homosexueller Vollmitglieder als auch ehrenamtlicher Leitungspersonen), 1 (Akzeptanz Homosexueller nur entweder als Mitglieder oder als Leitungspersonen) oder 0 (Akzeptanz weder von homosexuellen Mitgliedern noch homosexuellen Leitungspersonen) liegt. Der Beginn des Pfeils steht für 2008, der Endpunkt für 2022. Die Pfeile zeigen in fast allen religiösen Traditionen nach oben – ein Zeichen für wachsende Akzeptanz. Besonders deutlich ist der Wandel in den katholischen, evangelisch-konservativen und muslimischen Traditionen. Die buddhistischen und reformierten protestantischen Gemeinschaften bleiben am offensten.
Abbildung 3: Entwicklung der Inklusivität gegenüber homosexuellen Menschen, nach religiöser Tradition (2008 und 2022)
Anmerkungen:
(1) Beginn des Pfeils: Prozentsatz im Jahr 2008; Ende des Pfeils: Prozentsatz im Jahr 2022.
(2) Änderungen sind signifikant auf < 0,05 Niveau außer Orth. Christen, Andere Christen, Juden, Buddhisten und Hindus/Sikhs.
Inklusion: Mehr Offenheit gegenüber weiblicher religiöser Führung
Zwischen 2008 und 2022 sind die lokalen religiösen Gruppen offener für die religiöse Führung durch Frauen geworden, sowohl in Bezug auf ihre Normen als auch in der Praxis. Der Anteil der lokalen religiösen Gruppen, die Frauen grundsätzlich erlauben, als ihre wichtigsten spirituellen Leitungspersonen zu wirken, ist von 47% (2008) auf 54% (2022) gestiegen. Der Prozentsatz der lokalen religiösen Gruppen, die in der Praxis von Frauen geleitet werden, ist von 12,4% (2008) auf 15,2% (2022) gestiegen. Diese allgemeinen Veränderungen sind nicht sehr groß, aber statistisch signifikant.
Die gestiegene Akzeptanz weiblicher religiöser Führung lässt sich nur in einigen der religiösen Traditionen beobachten, hauptsächlich bei den klassischen Evangelikalen, den konservativen Evangelikalen, den anderen Christen und diverser anderer Religionsgruppen zurückzuführen. Die höhere Akzeptanz von Frauen in Führungspositionen in der Praxis entsteht vor allem aufgrund von Veränderungen bei den reformierten Protestanten, den klassischen Evangelikalen und den Buddhisten. Einige religiöse Traditionen zeigen wenig, keine oder sogar negative Veränderungen. Dies ist der Fall bei konservativen Evangelikalen, orthodoxen Christen, Muslimen und Hindus/Sikhs (Anhang Abbildung A1 und Abbildung A2).
Somit stimmen die religiösen Traditionen, die hauptsächlich die normative Akzeptanz von weiblichen religiösen Führungspersonen geändert haben, nicht mit denjenigen überein, die hauptsächlich die Praxis geändert haben. Wie lässt sich dies erklären? Um die Antwort auf dieses Rätsel zu finden, betrachten wir die Konfessionen / Föderationen getrennt (und wählen nur Gemeinden aus Konfessionen mit mehr als 7 Beobachtungen aus).
Abbildung 4 zeigt ein klares sequenzielles Muster: Zunächst steigt der Prozentsatz der Gemeinden, die der Meinung sind, dass eine Frau prinzipiell eine spirituelle Leitungsperson sein kann; in einem zweiten Schritt steigt die Zahl der tatsächlichen weiblichen spirituellen Leitungspersonen. Es dauert folglich einige Zeit, bis die in einer Föderation zusammengeschlossenen Gemeinden zu der gemeinsamen Auffassung gelangen, dass Frauen spirituelle Leitungspersonen sein können. Erst wenn diese Auffassung von den Gemeinden geteilt wird, kann der Prozess der Besetzung von Positionen mit spirituellen Leitungspersonen beginnen – und das wiederum braucht ebenfalls Zeit.
Abbildung 4: Normative Offenheit gegenüber weiblicher Führung und tatsächliche weibliche Führung, nach Konfessionen (2008 und 2022)
Anmerkungen:
(1) Es werden nur Denominationen mit mindestens 8 Beobachtungen für jede Achse angezeigt.
(2) Beginn des Pfeils: Prozentsatz im Jahr 2008; Endpunkt des Pfeils: Prozentsatz im Jahr 2022.
(3) Wir haben den 100%-Wert auf der x-Achse und den 0%-Wert auf der y-Achse auf einen kleinen Bereich erweitert, um die Lesbarkeit zu verbessern.
Fazit
Diese Studie liefert zwei zentrale Erkenntnisse zu den Veränderungen in der religiösen Landschaft auf der Ebene lokaler religiöser Gemeinschaften in der Schweiz. Erstens gibt es einen anhaltenden Säkularisierungstrend nicht nur bei den anerkannten christlichen Kirchen (reformiert-protestantisch und katholisch), sondern im gesamten religiösen Feld. Die Gesamtzahl religiöser Gruppen und die Gesamtzahl der regelmässig an religiösen Ritualen Teilnehmenden ist zurückgegangen. Das Durchschnittsalter sowohl der Leitungspersonen als auch der Mitglieder ist gestiegen – stärker als bei vergleichbaren Gruppen in der Gesellschaft im Allgemeinen. Überraschenderweise findet sich dieses Phänomen nicht nur bei den anerkannten christlichen Kirchen (katholisch, reformiert-protestantisch), sondern auch bei nicht anerkannten christlichen Gruppen und bei nicht-christlichen Gruppen. Dieses Ergebnis widerspricht Theorien, welche Säkularisierung nur für ein Phänomen anerkannter großer Kirchen halten. Allerdings finden wir auch Ausnahmen (z.B. wachsen die orthodoxen Kirchen). Die größere Bedeutung dieser Ergebnisse besteht darin, dass Säkularisierung das religiöse Feld stärker beeinflusst als bisher angenommen.
Zweitens gibt es einen Trend zu mehr Inklusion. Lokale religiöse Gruppen sind im Durchschnitt gegenüber homosexuellen Mitgliedern und spirituellen Leitungspersonen offener geworden, wie auch gegenüber der Möglichkeit und Praxis weiblicher Führung. Diese Trends sind signifikant, aber nur für bestimmte religiöse Traditionen sichtbar. Wenn wir uns auf die Denominationen (Verbände lokaler Gruppen) konzentrieren, stellen wir eine klare Reihenfolge fest: In einem ersten Schritt werden die Denominationen im Laufe der Zeit offener für weibliche religiöse Führung. Sobald diese Vorstellung sich weitgehend durchsetzt, werden freiwerdende Positionen mit Frauen besetzt. Die größere Bedeutung dieser Ergebnisse besteht in der langsamen Bewegung hin zu mehr Inklusion im religiösen Bereich, selbst bei religiösen Traditionen, die als konservativ gelten.
Natürlich betrachtet diese Studie nur die Veränderungen zu zwei Zeitpunkten. Es bleibt abzuwarten, ob diese Veränderungen auf konsistente Trends über einen längeren Zeitraum hinweisen. Weitere Ergebnisse zu Veränderungen im Hinblick auf das zunehmende Umweltengagement der Gemeinden, die zunehmende nationale Wohltätigkeitsarbeit und Veränderungen in Ritualsformen finden Sie auf www.congregation.ch.
Anhang
Hinweis zum Zählen von Gruppen
Die Definition lokaler religiöser Gruppen wurde 2008 und 2020 in ähnlicher Weise angewandt. Die Anwendung wurde jedoch in zwei spezifischen Fällen geändert. Wir haben beschlossen, im Jahr 2020 auch die Sprachgruppen der Zeugen Jehovas und der katholischen Missionen als eigene lokale Religionsgemeinschaften zu zählen. Um konsistent zu bleiben, mussten wir daher die Zählung für die Daten von 2008 neu anpassen.
Anmerkung zu religiösen Traditionen
Wir verwenden eine 12-stufige Variable zur religiösen Tradition. Sie umfasst die folgenden Kategorien: (1) römisch-katholisch; (2) reformiert-protestantisch; (3) klassisch-evangelikal; (4) charismatisch-evangelikal; (5) konservativ-evangelikal; (6) orthodoxe Christen; (7) andere Christen; (8) jüdisch; (9) muslimisch; (10) buddhistisch; (11) Hindu/Sikh; (12) “Andere”. In dieser Kategorisierung sind die “Katholiken” ausschließlich römisch-katholisch. Die Christkatholiken, eine kleine, aber in manchen Kantonen öffentlich-rechtlich anerkannte Gruppe, werden als “Andere Christen” kodiert. Die Evangelikalen sind entlang theologischer Grenzen aufgeteilt. Neo-pietistische Gemeinden, von denen die meisten im 19. Jahrhundert gegründet wurden, werden als “klassische Evangelikale” bezeichnet. Literalistische/fundamentalistische Gemeinden werden als “konservative Evangelikale” bezeichnet, und charismatische und pfingstlerische Gruppen als “charismatische Evangelikale”. Aus praktischen Gründen haben wir die Sikhs mit den Hindus zusammengelegt, da es im gesamten Umfragedatensatz nur eine einzige Sikh-Gemeinde gibt. Unsere Variable für religiöse Traditionen ist nicht für alle Religionen gleich spezifisch, da Religionen, Traditionen und Subtraditionen sowohl in unseren Erhebungsstichproben als auch in den Volkszählungen eine sehr unterschiedliche Anzahl von Gemeinden aufweisen.
Zusätzliche Abbildungen
Abbildung A1: Geschätzter Prozentsatz der regelmäßigen Teilnehmenden im Alter von 60 Jahren und älter, nach religiöser Tradition (2008 und 2022)
Anmerkungen:
(1) Beginn des Pfeils: Prozentsatz im Jahr 2008; Ende des Pfeils: Prozentsatz im Jahr 2022.
(2) Änderungen sind mindestens auf < 0,05 Alpha-Niveau signifikant, außer bei Evang. Kons., Orth. Christen, Andere Christen, Juden und Muslime.
Abbildung A2: Normative Offenheit der weiblichen religiösen Führung in verschiedenen religiösen Traditionen (2008 und 2022)
Anmerkungen:
(1) Beginn des Pfeils: Prozentsatz im Jahr 2008; Ende des Pfeils: Prozentsatz im Jahr 2022.
(2) Die Veränderungen sind nur für Evang. Klasse, Andere Christ. Und Andere.
Abbildung A3: Praxis der weiblichen religiösen Führung in verschiedenen religiösen Traditionen 2008 und 2022
Anmerkungen:
(1) Beginn des Pfeils: Prozentsatz im Jahr 2008; Ende des Pfeils: Prozentsatz im Jahr 2022.
(2) Die Änderungen sind nur für Ref. signifikant (mindestens < 0,05 Alpha-Niveau). Prot. und Evang. Class. und Muslim.
Finanzierung
Beide Wellen der National Congregation Study Switzerland wurden vom Schweizerischen Nationalfonds finanziert.
Erste Welle FNS-Zuschussnummer: 4058-115719
Zweite Welle FNS-Zuschussnummer: 100015_192499 /
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